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Am 13. April wurde Adil Demirci, wie ich ein Kölner, um drei Uhr nachts von einem »Anti-Terror-Kommando« in der Istanbuler Wohnung seines Onkels festgenommen. Demirci ist deutscher und türkischer Staatsbürger, er hatte seine schwer kranke Mutter, die Verwandte besuchen wollte, in die Türkei begleitet. Der Grund für die Festnahme, wie in vielen anderen Fällen der jüngsten Zeit, ist ein konstruierter Terrorverdacht.

Die Behörden werfen dem 33-jährigen Sozialwissenschaftler vor, in den Jahren 2013 bis 2015 an Beerdigungen von Mitgliedern der in der Türkei verbotenen linksextremistischen Partei MLKP teilgenommen zu haben. Die Gefallenen hatten sich der in der Türkei ebenfalls verbotenen syrischen Kurdenmiliz YPG angeschlossen und gegen den »Islamischen Staat« (IS) gekämpft. Demirci leugnet nicht, auf diesen Beerdigungen gewesen zu sein – allerdings als Be-richterstatter der linken türkischen Nachrichten-agentur Etha, die nicht verboten ist.

Unterstützt wurde die YPG damals von der Europäischen Union, Waffen kamen auch aus den USA. Der IS, gegen den die Kurdenmiliz kämpfte, wurde bis heute teils offen, teils heimlich von der türkischen Regierung unterstützt und ist ihr ein Instrument für die Vorherrschaft im Nahen Osten.

In der vergangenen Woche begann der Prozess gegen Adil Demirci. Als Teilnehmer einer Delegation, die sich für seine Freilassung einsetzt, bin ich nach Istanbul gereist, zusammen mit den Bundestagsabgeordneten Heike Hänsel (Die Linke) und Rolf Mützenich (SPD), dem Kölner Ratsmitglied Jörg Detjen, der Ex-Ministerin Anke Brunn und Sabine Skubsch, Betriebsratsvorsitzende von Demircis Arbeitgeber, dem Internationalen Bund, einer Wohlfahrtsorganisation. Sie hat Demircis Arbeitsvertrag nach dessen Inhaftierung entfristet und zahlt sein Gehalt während der Haft weiter. Auch der deutsche Generalkonsul Michael Reiffenstuel verfolgte mit drei Mitarbeitern den Prozess.

Wenige Minuten nachdem der viel zu kleine Gerichtssaal geöffnet wurde, war er überfüllt. In dem Verfahren wurde gleichzeitig gegen 22 Angeklagte verhandelt.

Schon in der ersten Stunde wurde die Luft stickig. Die Verhandlung wurde mehrmals unterbrochen, die Zuschauer wurden jedes Mal hinauskomplimentiert und die Angeklagten in Handschellen ab- und wieder hineingeführt.

Weder Staatsanwaltschaft noch Gericht setzten sich auch nur ein einziges Mal ernsthaft mit den Ausführungen der Verteidiger auseinander. Sie ließen sie bloß reden. Sie sahen sich auch nicht imstande, selbst Dokumente vorzulegen, die eine Schuld der Angeklagten hätten beweisen können. Demircis beeindruckend ruhige und sachliche Einlassungen prallten am Gericht ab.

Es ist nicht meine erste Teilnahme an einem Prozess vor einem türkischen Gericht. In all den Verfahren, ob sie nun gegen den Kölner Schriftsteller Dogan Akhanlı, die deutsche Journalistin Mesale Tolu oder den türkischen Journalisten Ahmet Sık gerichtet waren, erlebte ich diese Art von richterlicher Vorein-genommenheit: Redet ruhig, signalisiert sie, wir entscheiden ohnehin nach Kriterien, die außerhalb eures Blickfelds liegen.

Für das Gericht war unsere Teilnahme wohl ein Ärgernis. Der Richter raunzte Demircis Anwalt an, er solle gefälligst nicht zu den westlichen Delegierten sprechen. Das ist durchaus nachvollziehbar: Unter Beobachtung zu stehen heißt nämlich, sich rechtfertigen zu müssen. Genau das will ein Richter in der Türkei nicht. Wahrscheinlich wären weder Dogan Akhanlı noch Mesale Tolu ohne Prozessbeobachtung und Solidaritätsaktionen freigekommen.

Obwohl ich immer wieder eines Schlechteren belehrt wurde, dass nämlich Urteile bereits längst vor den Gerichtsprozessen politisch entschieden waren, gingen wir, wie auch Demircis Anwalt, bis zuletzt davon aus, dass Adil Demirci noch an diesem Tag freikommen würde. Schließlich konnte das Gericht keinerlei Beweismittel vorlegen.

Es kam anders: Adil Demirci kommt nicht frei. Das erfuhren wir erst nach dem Ende des Prozesstages von seinem Anwalt, draußen vor dem Gerichtsgebäude, wo Dutzende Angehörige und Zuschauer ausharrten, weil das Gericht seine Entscheidung nicht der Öffentlichkeit hatte mitteilen wollen.

Mit uns wartet ein Team der ARD und interviewt uns zu der gerade bekannt gewordenen Entscheidung. Ich bemerke, wie sich ein zweiter Kameramann und ein einschüchternd finster dreinblickender Begleiter neben uns aufbauen und alle Aussagen aufnehmen. Ich spiele den Naiven und frage, für welchen Sender sie denn arbeiten. »Police!«, zischt er mich an. Als der Anwalt von Adil Demirci die beiden bemerkt, sieht er sich nicht mehr imstande, mit dem ARD-Team zu sprechen.

Meinen ersten Impuls, die Polizei-Filmer mit meinem Handy »erkennungsdienstlich« aufzunehmen, unterdrücke ich dann doch lieber. Ich fürchte, an Ort und Stelle attackiert zu werden, außerdem die Be-schlagnahme meines Handys. Die Einschüchterungstaktik verfehlt auch bei mir ihre Wirkung nicht.

Ich habe einen sehr persönlichen Grund, mich für politisch Verfolgte, insbesondere in der Türkei, ein-zusetzen. »Ali«, die Rolle in meinem Buch Ganz unten (1985), ist immer noch ein Teil von mir. Über zwei Jahre lang habe ich damals mit türkischen Arbeitern, die nach Deutschland kamen und hier meist nur schlechte Arbeit mit mieser Bezahlung und noch weniger Respekt fanden, gelebt und mit ihnen gelitten. Ich bin es ihnen schuldig, deutlich Position gegen Erdogan zu beziehen, gerade auch gegenüber seinen Anhängern. Etliche von ihnen sind enttäuscht von mir, aber ich weigere mich, dass hieraus persönliche Feindschaften entstehen.

Wie bei einem türkischstämmigen Mann, der mir kürzlich schrieb, ich sei »der Held seiner Jugend« ge-wesen. Er war zwölf Jahre alt, als Ganz unten erschien, das Buch habe sein Leben verändert. Inzwischen ist er ein glühender Erdogan-Verehrer, der in mir nun einen »Verräter« sieht, der »die Fronten gewechselt« habe. Als ich erfuhr, dass er mal Tischtennis-Jugendmeister war, lud ich ihn zu mir nach Hause zu einem Match ein. Wir spielten mehrere Stunden und unterhielten uns anschließend. In seiner Grundhaltung konnte ich ihn wohl nicht erschüttern, aber er schrieb mir danach, dass er nun nicht umhinkomme, »mich nicht nur zu schätzen, sondern auch zu mögen«. Ein weiteres Treffen ist verabredet.

Der nächste Verhandlungstag im Prozess gegen Adil Demirci ist der 14. Februar 2019. Ich werde wieder in die Türkei reisen