Interview

Ein Extrakt aus Gesprächen mit Wolfgang Michal (Die Feder), Frank Berger (Vorwärts), Spiegel-Gespräch, Züricher Tagesanzeiger, Stuttgarter Zeitung u. Schülerzeitung Sternschnuppe (Göppingen)

Mehr als drei Millionen verkaufte Bücher in ganz Europa, Wallraff auf allen Kanälen und in allen Zeitungen - haben Sie mit diesem Erfolg gerechnet?

Ganz und gar nicht, im Gegenteil. Bevor das Buch damals erschien, hatten mir journalistische Profis erklärt, das Thema sei »tot« und »ausdiskutiert«. Über die Situation der ausländischen Arbeiter und ihre Familien sei schon zuviel berichtet worden da sei »die Luft raus«. Selbst bei den Gewerkschaften war nur ein müdes Interesse vorhanden. Ich hatte einen mir bekannten höheren Funktionär, den ich als engagiert und nicht bürokratisch einschätze, in mein Vorhaben eingeweiht und ihm auch Originaldokumente und Teile des Manuskripts gezeigt, in der Hoffnung, daß ich ihn dazu bewegen könnte, eine Sonderausgabe in türkischer Sprache zu ermöglichen oder das Buch in den Gewerkschaftsorganisationen zu verbreiten. Was dann passierte, war für mich erst mal ein Schock. Er sagte nämlich: »Das ist kein Thema für uns. Die Stimmung in den Betrieben ist so, daß man die Ausländer weitmöglichst außen vor hält. Nicht einmal zu Schulungen, zum Beispiel zu Betriebsräteschulungen, werden sie in ausreichender Zahl geschickt. Dies deshalb, weil die Stimmung unter den deutschen Kollegen dagegen ist, absolut dagegen.« Das war nicht seine eigene Meinung, er sagte nur, wie es aussah, und meinte: »Damit kommen wir nicht durch. »-« Wenn du das als deutscher Arbeiter gemacht hättest, das wäre ein Thema, das könnten wir unterstützen«, meinte er abschließend.

Damals dachte ich, wenn mir das Thema selbst von denen nicht abgenommen wird, wo kann ich dann noch eine Wirkung erzielen. In dieser schwierigen Phase erhielt ich Ermutigung das Thema weiter zu verfolgen eigentlich nur vom Verlag. Was dann folgte, war für alle überraschend. Von der Auflage von »Ganz unten« sind wir dann regelrecht überfahren worden. Und deshalb habe ich mich auch entschlossen, einen Teil des Honorars wieder an die, die Thema des Buches sind, zurückzugeben. (siehe Stiftung »ZusammenLeben«)

Das Buch scheint die Menschen tatsächlich aufgerüttelt zu haben. Behörden und Politiker hab en noch am Erscheinungstag auf Ihre Enthüllungen reagiert. Ist da ein Umdenkungsprozeß in Gang gekommen ?

Es ist tatsächlich so, als sei eine schweigende Mehrheit wachgerüttelt worden, obwohl man immer glaubte, diese Gesellschaft hätte kein Gewissen mehr. Viele sind nachdenklicher geworden, was die Situation der Ausländer anbelangt. Sie haben umgedacht. Darunter auch Leute, die vorher den »Aus-länder-raus-Standpunkt« vertraten. Die Änderungen betreffen nicht nur die »großen« Dinge, zum Beispiel, daß bei Thyssen Kontrollen stattfinden, daß die Arbeitszeitordnung jetzt eingehalten wird, daß es bessere Sicherheitsvorkehrungen und Arbeitsschutzkleidung gibt und daß neue Arbeitsplätze geschaffen werden - es wurden sogar Sicherheitsingenieure neu eingestellt -, sondern es gibt auch sehr positive private Reaktionen. So habe ich - ein Beispiel von vielen - erfahren, daß die Besitzerin eines großen Bekleidungsgeschäftes in Bonn nach der Lektüre des Buches zwei türkische Praktikantinnen angestellt hat, was sie vorher, mit »Rücksicht« auf die Kundschaft, nicht getan hätte. Man muß sich in dem Zusammen-hang klarmachen, daß seit der Wende, verbunden mit dem wirtschaftlichen Aufschwung, wieder ein nationales Überheblichkeitsgefühl entwickelt wurde. Ich denke da an die Schlagzeile in der »Bild«-Zeitung: »Wir sind wieder wer!« Was soviel bedeutet wie: »Wer seid ihr denn schon?« Viele sehen Ausländer als Eindringlinge an. Dabei wird ihre Situation - man hat sie ja schließlich hergelockt, für diese Arbeiten angeworben - längst verdrängt. Dann gibt es die Parolen, daß die Ausländer »uns« Stellen wegnehmen. Die meisten wissen gar nicht, daß die Krankenkassen- und Rentenfinanzierung sowie die Arbeitslosenversicherung zusammenbrechen würden, wenn die Ausländer gehen würden. Die Gesellschaft will die Arbeit der Ausländer, sie braucht sie dringend, aber die ausländischen Arbeiter sollen unsichtbar bleiben.

Mir ist, von Deutschen, von einzelnen Kritikern und intellektuellen Strategen und politischen Gruppen vorgehalten worden, das Buch habe Mitleid ausgelöst. Ich finde das gar nicht negativ, denn in einer Gesellschaft, die sich sonst nur rational verhält und rein intellektuelle Abwehrmechanismen zuläßt, entstehen plötzlich Gefühle. Mir haben Leute berichtet, sie hätten bei der Lektüre des Buches gelacht und geweint und das Buch habe eine verändernde Kraft für sie gehabt.

Das Buch hatte eine solch große Wirkung erreicht, wie sie unsere Gesellschaft eigentlich nicht zulassen konnte, denn es hat eine moralische Dimension in eine eiskalte, nur am Profit orientierte Gesellschaft gebracht. Je größer die Kraft des Buches war, desto mehr wurde versucht, sie zunichte zu machen. Bis hin zu solchen Leuten, die mir, was die Wirkung angeht, eiskaltes Kalkül unterstellten. Wenn die wüßten, wie improvisiert hier die Sachen gelaufen sind. Die besten Ideen sind bei mir aus der Aktion heraus entstanden. Spontaneität fördert meine Kreativität und Phantasie am stärksten.

Wichtig ist, daß Deutsche und Ausländer angefangen haben, miteinander zu reden, daß sich Familien kennenlernen, einen Teil ihrer Freizeit zusammen verbringen. Dadurch sind Freundschaften entstanden. In den unzähligen Briefen, die nach Veröffentlichung des Buches bei mir eingegangen sind, habe ich das immer wieder mitgeteilt bekommen.

Sie sind einigen Leuten sehr unbequem, die Macht in diesem Land haben. Bekommt man das zu spüren?

Ich kann mich nicht beklagen. Wer an solche Machtblöcke herangeht, kann nichts anderes erwarten. Ich sehe auch eine ziemliche Ermutigung. Früher war es so, daß Staatsanwälte und Gerichte gegen einen losgingen. Jetzt gehen sie gegen die eigentlichen Täter vor. Sie sind sensibilisiert. Richter die das Buch lesen, entwickeln soziale Phantasie. Seit Erscheinen des Buches sind die Bußgelder gegen solche skrupellosen Menschenhändler verzehnfacht worden. Es sind bundesweit 13000 Verfahren eingeleitet worden. Selbst eine Bundesregierung, die selbst zwar keine Taten folgen läßt, stellt immerhin mißbilligend fest, in einer Studie, die jetzt der Öffentlichkeit vorliegt, daß bei Verleihfirmen von zehn Fällen in sechs bis acht - je nach Bundesland verschieden - kriminell gearbeitet wird. Von daher ist jetzt auch die Zeit da, eine Amnestie für die illegalen zu fordern und sie als Zeugen zu hören gegen die Verursacher, gegen die Profiteure und Ausbeuter dieser Zustände.

Es ist befreiend für mich, daß ich endlich, erstmalig bei meiner Arbeit, mich nicht mehr verteidigen muß wegen der »so verwerflichen Methode«. Bisher hatte man es immer geschafft, sich damit aufzuhalten, um so von den geschilderten Zuständen ablenken zu können. Plötzlich kommt man zur Sache.

Über die Reaktion der deutschen Leser von »Ganz unten« ist viel geschrieben worden, über die der Ausländer wenig. Welches Echo hatte denn das Buch bei den in der Bundesrepublik lebenden Türken?

Eine starke Wirkung: Ich erhielt Besuche, ich bekam Tausende von Zuschriften. Mir wurden Schilderungen von Schicksalen zugeschickt, die weit über das hinausgehen, was ich erlebt habe und nur annähernd beschreiben konnte. Es sind oft Hilfeschreie. So habe ich auch nachträglich erfahren, daß bei Thyssen 16- und 17jährige, halbe Kinder noch, verbotene Schwerstarbeit leisten mußten, die sich älter machen mußten, um nicht aufzufallen. Etliche von ihnen haben gesundheitliche Schäden - unter Umständen fürs Leben - davongetragen.

Welchen Anteil hatten denn die Gewerkschaften am Erfolg von »Ganz unten«?

Meine interessantesten Veranstaltungen waren die Gewerkschaftsveranstaltungen. Neben der Gewerkschaftsjugend waren es vor allem IG-Metall-Verwaltungsstellen, die mich einluden, aber auch die Eisenbahner-, Post- und Bauarbeitergewerkschaft. Bei den Veranstaltungen konnte ich eine deutliche Stimmungsänderung beobachten. Es kamen immer wieder Deutsche, die sagten: »Wir hatten vorher auch diesen »Ausländer-raus-Standpunkt«, und wir empfanden die Ausländer als Bedrohung. Aber jetzt, wo wir das nachvollziehen können, was Ausländer in dieser Gesellschaft einzustecken haben, hat sich unsere Einstellung verändert.«

Von Ausländern bekam ich immer wieder zu hören, daß das Buch eine Art Schutzfunktion für sie hat, daß es ihr Selbstbewußtsein stärkte. Plötzlich war eine Grundlage da, auf der diskutiert werden konnte. Sie konnten in aller Öffentlichkeit über ihre Situation berichten und wurden angehört, während sie vorher oft nur belächelt wurden oder sich von vornherein schämten, überhaupt etwas zu sagen.

Das Thema war ja bisher negativ besetzt mit dem Begriff »Schwarzarbeit«. Jetzt aber hatte sich die Aufmerksamkeit auf die eigentlichen Profiteure sogenannter Schwarzarbeit verlagert: die Verleiherbranche. Damit kam auch innerhalb der Gewerkschaftsbewegung etwas in Gang. Seitdem ist in den Medien von »Menschenhandel« bzw. modernen »Sklaven« die Rede.

Das Buch wurde auch über Lizenzausgaben bei den Gewerkschaften verbreitet. Da hat es seine Hauptwirkung gehabt. Ich kenne Fälle, wo ein Buch von 10 bis 20 Kolleginnen und Kollegen gelesen wurde, wo es von Hand zu Hand ging und vom letzten zerfleddert an den ersten zurückgegeben wurde. Es war Gesprächsthema in den Kantinen und Pausenräumen, wo sonst oft Witze auf Kosten der Ausländer gemacht wurden. Da war plötzlich eine Schamschwelle da, wo die Alleinunterhalter und Stimmungskanonen mit ihren ausländerfeindlichen Späßen nicht mehr rüberkamen. Anderen, die bisher keine Zivilcourage gezeigt hatten, weil sie nicht anecken wollten, machte das wiederum Mut, ihre Meinung offen zu vertreten. Die Gewerkschaften sahen es jetzt als ihre Aufgabe, den Kampf gegen die Leiharbeit verstärkt aufzunehmen und in den betrieblichen Alltag hineinzutragen.

Der DGB übernahm von der französischen Organisation SOS-RASSISME die Aktion »Touche pas a mon pote« - »Mach meinen Kumpel nicht an«. Die Plaketten und Aufkleber der gelben Hand wurden zum Symbol gegen Ausländerfeindlichkeit und für Solidarität mit den ausländischen Kollegen.

Wo die Ausländerproblematik bisher in Betrieben nicht thematisiert werden konnte, kommt es jetzt zu gemeinsamen Aktionen gegen Diskriminierung am Arbeitsplatz. In vielen Betrieben werden spontan Schmierereien mit ausländerfeindlichen Hetzparolen übermalt, wie u. a. bei Thyssen über Vertrauensleute und den Betriebsrat oder bei VW Baunatal sogar mit Einschaltung des Werkschutzes.

Aus dem fast einjährigen Prozeß den der Thyssen-Konzern gegen Sie anstrengte, sind Sie eigentlich als klarer Sieger hervorgegangen. Das Unternehmen mußte nahezu vier Fünftel aller Verfahrenskosten bezahlen. Nach allem, was man gehört hat, scheinen Sie mit dem Urteil aber nicht ganz zufrieden zu sein?

Ich muß vorausschicken, daß die Zeugenaussagen meiner ehemaligen Arbeitskollegen in vielem vor Gericht weit über das hinausgehen, was ich selbst erlebt und aufgeschrieben habe. Jetzt, wo ich eine größere Ubersicht besitze, ist mir klargeworden, daß ich vieles mit zu großer Zurückhaltung geschildert habe. Man muß auch die Schuld des Konzerns, seine moralische Schuld viel stärker beim Namen nennen, als ich dies bislang getan habe.

Was die verlorenen eineinhalb Punkte anbetrifft, so führe ich dies in erster Linie auf das fehlende Vorstellungsvermögen der Richter zurück - sie haben sich nicht die Mühe gemacht, einen Lokaltermin anzusetzen.

Die Rolle als Ali bei Thyssen war ja eigentlich im doppelten Sinne riskant - einmal aus gesundheitlichen Gründen und dann natürlich auch deshalb, weil Sie sich ja nicht gegenüber Ihren Arbeitskollegen offenbaren konnten. Läßt sich ein solcher Konflikt auf Dauer lösen?

Im Vergleich zu früheren Rollen mußte ich mich diesmal immer wieder neu tarnen und verstecken - da gab es etliche Situationen, bei denen die ganze Sache hätte auffliegen können. Von daher war es eine sehr nervenaufreibende Rolle. Ich hatte auch bei einigen Arbeitskollegen das Bedürfnis, sie ins Vertrauen zu ziehen. Die hätten sicherlich dichtgehalten, aber das hätte die ganze Rolle verschoben, dann wäre das eine andere Ebene gewesen, und sie hätten sich mir gegenüber anders verhalten.

Ich war in der Rolle auch sehr allein. Ich habe Sachen gemacht, die die anderen nicht verstanden haben. Als ich mich plötzlich befördern ließ zum Lakaien, zum Chauffeur, wollte Vogel mich auch zum Kontrolleur machen. Da bin ich zum Schein drauf eingegangen. Einige Kollegen haben das nicht verstanden. »Ach, der Ali, sieh mal an! Immer so groß geredet. Und jetzt? Aufstiegsleiter!« Ich habe durch Ironie versucht, es einigen klarzumachen. »Ich mach da was draus. Ihr erfahrt später alles, was hier passiert.«

Aber auch vor dieser Entwicklung mußte ich mich meinen Kollegen gegenüber tarnen, um genauso angesehen zu werden wie sie auch. Von daher habe ich am Anfang schon Schwierigkeiten gehabt, wie ich es mit der Sprache mache. Ich bin an einem Intensivkurs Türkisch total gescheitert. Deshalb habe ich erst mal angefangen, als taubstummer Türke aufzutreten, zusammen mit einem, der sich als mein Bruder ausgab - aber da kriegt man nichts zu hören. Dann habe ich versucht, politische Gründe vorzuschieben, daß diese Sprache nicht mehr meine Heimatsprache ist, solange da Diktatur und Folter sind. Da wurde ich von sehr vielen Türken schief angesehen: Das galt als fanatisch. Tatsächlich gab es dann das Sprachproblem kaum noch, weil von den jüngeren Türken viele schlecht Türkisch und etwas besser Deutsch sprachen. Oder es waren so viele Nationalitäten zusammen, daß man sich allgemein in gebrochenem Deutsch unterhielt. Die Sprache war da plötzlich ein Sekundärproblem. Von daher kann man nicht alles restlos vorbereiten, starr wie ein Schauspieler eine vorgegebene Rolle angehen.

In den Bestseller-Listen taucht lhr Buch als Sachbuch auf. Reportage war aber immer auch eine literarische Form. Sind Sie mit der Zuordnung Sachbuch einverstanden?

»Ganz unten« ist ein erlebtes, ein erfühltes, ein erlittenes Buch. Es ist gleichzeitig auch ein Sachbuch. Denn die Fakten müssen belegt sein und vor Gericht standhalten. Dafür ist es auch ganz bewußt subjektiv geschrieben. Es ist Non-fiction. Aber die Methode ist eine künstlerische. Das Buch soll an Ort und Stelle etwas verändern. Das ist das Wichtigste.1

Sie benutzen in Ihrem Buch die Formulierung »lch (Ali)«. Welche Bedeutung hat die Rolle für Sie gehabt?

Das, was den Ali ausmacht, das ist ein Stück von mir, von meinem Ureigensten. Der Ali ist ja kulturell eigentlich kein Türke, sondern steht im Spannungsfeld zwischen verschiedenen Kulturen: türkisch, deutsch, und seine Mutter ist Griechin. Der Ali operiert als Traumfigur, und er träumt etwas vorweg, die Verständigung und Versöhnung zwischen verschiedenen Kulturen und Nationalitäten und auch das Widerstandspotential gegen Fremdherrschaft.

In meinem Buch sage ich wieder »ich«, indem ich mich angenähert habe an diese Figur namens Ali, darum habe ich im Buch auch dieses etwas holprige »lch ( Ali )« geschrieben, wobei man das »Ich« als Vornamen und das »Ali« als Nachnamen lesen muß. Ich war immer beides. Und das meine ich. Wenn man »ich« sagt, muß das immer in Verbindung stehen zu anderen Schicksalen, Existenzen, Identitäten. . . »Ich« ist das Durchgehen von vielen anderen. »Ich« ist auch immer zufällig. Innerhalb der Rolle zu leben, ist gleichzeitig Spiel, ein ganz befreiendes Moment, viel intensiver und authentischer. Es ist für mich immer wieder eine Suche nach Identität, eine Möglichkeit, mir meiner selbst bewußt zu werden, und es ist auch meine Neugierde: also neben allem Engagement auch ein egoistisches Prinzip, das ich damit verbinde.

Die Ali-Figur hat auch ihre literarische Dimension. Da ich nicht ernstgenommen wurde, da ich wie ein Kind, wie ein Narr behandelt wurde, konnte ich mir jede Frage erlauben. Das heißt, man konnte sich wie ein Kind die Welt wieder neu aneignen. Es ist eine wunderbare Sache, alles fragen zu dürfen. Als Journalist, als Schriftsteller, als ernstgenommener Staatsbürger bist du ja sehr schnell an Grenzen angelangt mit Fragen, die schicklich sind, die noch erlaubt sind. Ich aber konnte alle löchern mit Fragen. Auch auf einer Ebene, auf der du alles in Frage stellen kannst. Wo ich die bestehende Norm als absolut nicht akzeptabel hinstelle. Das ist auch die befreiende Kraft des Buches. Daß diese Figur alles hochwirbelt, nicht damit einverstanden ist und nicht alles schluckt. Ich glaube, das ist auch mit ein Geheimnis für den Erfolg des Buches. Ich stecke nicht nur ein. Ich gebe auch zurück. Das ist ein Widerstandspotential von unten.

Manche behaupten, Ihre Methode inszeniert manchmal erst die Wirklichkeit, die Sie hinterher angreifen. Sie würden Reaktionen provozieren, die ohne Sie gar nicht stattfinden würden. Was unterscheidet Ihre Methode von der eines Agent provocateur oder eines Under-Cover-Agenten?

Der grundlegende Unterschied besteht einmal darin, daß der Agent provocateur beauftragt ist, daß der mit allen Mitteln ausgestattet arbeitet und sich nicht in die Niederungen begibt, in die ich hineingehe. Solche Leute sollten sie mal zu Thyssen schicken; die stehen nicht um vier Uhr auf, lassen sich in diesem Dreck nicht sehen, sondern tummeln sich im Zuhälter-, Dirnen- und Drogenmilieu, wo sie die Puppen tanzen lassen; und sie machen ihre Arbeit in der Regel auch nicht aus Nächstenliebe oder für Menschen, für Kollegen, sondern meist für Geld. Die legen auch nicht anschließend ihre Karten auf den Tisch, sondern brechen ins Privatleben einzelner ein - und dort ist ja genau die Grenze meiner Rolle. Dort, wo es privat wird, ist für mich eine absolute Grenze. lch zeige jemanden nur in seiner beruflichen Funktion, da, wo er Macht ausübt, wo er anderen Menschen dadurch Schaden zufügt, sie fertigmacht, wogegen sich andere auch nicht wehren können. Und von daher ist meine Arbeit genau das Gegenteil von der eines Under-cover-Agenten oder eines Agent provocateur. Das sind Begriffe, die gegen mich von denen ins Spiel gebracht werden, die selbst in ihrem Beruf keine soziale Verantwortung kennen und die eines Gags wegen letztlich jede Moral über den Haufen schmeißen.

Agent provocateur - das stimmt nicht einmal von der weitesten Auslegung des Begriffs her. Selbst das letzte Kapitel im Buch, wo ein Alptraum inszeniert wurde, um zu sehen, wie weit jemand geht, war aus der Sorge heraus entstanden, daß eine zum Teil abgestumpfte Medienöffentlichkeit das nicht als so tragisch ansieht, wenn man Menschen dem schleichenden Tod überführt. Wenn sie nur um ihre Gesundheit gebracht werden, würde man sagen: Na ja, sie leben ja noch. Im konkreten Fall war mir bekannt, daß Vogel in einem Atomkraftwerk, in Würgassen, Arbeiter drin hatte, zum Teil ohne, zum Teil mit gefälschten Strahlenpässen. Das wußte ich, konnte es aber nicht beweisen. Der Informant hatte Angst, es war eine nicht abgesicherte Vorgabe. Die Grundsituation war bekannt, und von mir war auf dem normalen Weg eingeleitet worden, in Würgassen zu arbeiten. Ich hatte mich beworben, unter anderem Namen vorgestellt, wurde aber nicht eingestellt. Daraufhin erst habe ich mich zur Inszenierung und zur Dramaturgie einer vorhandenen Realität entschlossen, um einen Anfangsverdacht, der mehr als ein Verdacht war, auf den Punkt zu bringen. Ich wußte nicht, daß er bereit war, Menschen in den Tod zu schicken. Die Tatsache, das durchzuspielen, hat vielen die Augen geöffnet. Das ist, glaube ich, auch mit eine der stärksten Szenen des Films, wo prototypisch rauskommt, was in der Realität längst möglich ist.

Man muß manchmal etwas zu Ende denken.

Auch die Antworten der katholischen Pfarrer waren nicht provoziert. Wenn die sich in dem Buch »Ganz unten« manchmal so lesen wie eine Mischung aus Karl Valentin und Dieter Hildebrandt, dann ist das nicht mein Verdienst, das ist deren Bigotterie und Verschrobenheit, deren Weltverständnis. Ich habe sie nicht provoziert. In Siegburg hatte ich eine Veranstaltung, bei der kam eine Sozialarbeiterin mit ihrem Ehemann -einem Inder - zu mir, die hatten das gleiche erlebt. Sie ist strenggläubig erzogen, katholisch aufgewachsen, und ihr Mann gehört heute noch nicht zur Kirche, obwohl er sich mit ihr auseinandergesetzt hat, sich dazugehörig fühlt; die sind mit den gleichen Argumenten abgespeist worden. Die Frau sagte: »Ich habe es fast wörtlich in >Ganz unten< wiedergefunden.«

Früher haben Sie oft befürchtet, daß Sie über Ihre Reportagen eine Art Alibi-Funktion in dieser Gesellschaft erfüllen. Mit der Veröffentlichung von »Ganz unten« haben Sie auch die rechtlichen Normen dieser Gesellschaft zum Maßstab Ihrer Kritik gemacht. Sind Sie jetzt »systemkonform« geworden?

Ich glaube, die Betroffenen empfinden das anders. Das Rechtsempfinden dieser Gesellschaft, das vor dem Erfolg dieses Buches bestand, drückte sich darin aus, daß dieser angesehene Unternehmer, dem ich im Herr-Knecht-Verhältnis als Malocher und später als Chauffeur und Leibwächter zu Diensten war, daß er an dem Tag, als das Buch erschien, hocherhobenen Hauptes auf ein Kamerateam zuging, das vor seinem Haus wartete, mit ausgestrecktem Zeigefinger, und seine erste Reaktion war: »Wallraff ist der Verbrecher, er hat sogar eine falsche Lohnsteuerkarte benutzt, und das ist strafbar.« Dieser Mechanismus hat bis zu dieser Zeitrechnung immer gezogen. Was heißt schon systemkonform? Ich lebe in diesem Staat. Ich will in dieser Gesellschaft etwas verändern, ich gehöre zu dieser Gesellschaft, ich bin eine Antwort auf diese Gesellschaft. Wären wir eine gerechte demokratische Gesellschaft, bräuchte es mich vielleicht gar nicht zu geben.

Ich gehöre zu den Schwachen, meine Stimme ist nicht sehr stark, mein Auftreten auch nicht. Wenn ein Vertreter der Schwachen so etwas auslöst und in Bewegung setzt, scheinbar Allmächtige so durchsichtig, so durchschaubar macht und ihnen den Boden unter den Füßen wegzieht, so daß sie als lächerliche Figuren erkennbar sind - und wenn dann jeder das in seinen Bereich überträgt, dann merken viele, was für eine sonst brachliegende Stärke entsteht, wenn sich die Schwachen zusammentun, und was sie alles erreichen können, wenn sie sich nicht bevormunden lassen, sich nicht delegieren lassen, sich nicht von oben herab gängeln lassen. Und von daher ist meine Arbeit immer wieder ein Appell, sich nicht mit einer bevormundeten Situation abzufinden. Es ist eine Form der Aktion, die nachvollziehbar und auch von andern machbar ist.

Wie haben Sie die Prozesse und monatelangen Auseinandersetzungen um das Buch überstanden?

Die fortlaufenden Prozesse und Kampagnen, die von allen Seiten bis in mein Privatleben hinein geführt wurden, hatten mich innerlich aufgerieben - ich saß mehr mit Anwälten als mit Freunden zusammen. Von daher war ich an der Grenze dessen angekommen, was ich verkraften konnte.

Inzwischen habe ich diesen Tiefpunkt überwunden, die Prozesse sind gewonnen, die einzelnen Kampagnen verbraucht, so daß ich jetzt wieder selbst agieren kann.

Heißt das, daß Günter Wallraff auch zukünftig als David gegen Goliath weiterarbeiten wird, oder ist diese Epoche mit der Rolle des Türken Ali abgeschlossen?

Ich habe gelernt, daß dieses Rollenspiel notwendig ist. Man muß sich dafür aber noch mehr Zeit nehmen. Die zweieinhalb Jahre, die ich für dieses Buch gearbeitet habe, reichen nicht aus. Die nächste Rolle werde ich langfristiger anlegen. Ich habe auch schon etwas vor. Es wird auch wieder in einem Bereich sein, wo ich dazugehöre, im Gegensatz zur »Bild«rolle, die die größte Schmutzrolle meines Lebens war. Die Ali-Rolle hat mich dagegen psychisch aufgebaut. Dies soll bei der nächsten Rolle auch wieder der Fall sein.

 

1 Bei diesem Argument meinte der Thyssen-Konzern intervenieren zu können. In einem Schreiben an die Zeitungen der jeweiligen Städte, in denen Günter Wallraff beabsichtigte, Veranstaltungen durchzuführen, wurde u. a. sein Bekenntnis zur Subjektivität aus Sicht der Schwerindustrie moniert: »Kann man die Thyssen Stahl AG für die Gefühle eines Autors verantwortlich machen? Diese Frage stellt sich um so mehr, als der Autor der industriellen Wirklichkeit offensichtlich mit großen Ressentiments gegenabersteht. Bei solchen emotional geprägten Vorstellungen werden nicht verstandene Technik, industrielle Prozesse und wirtschaftliche Zwänge zu allererst als bedrohlich empfunden. Die industrielle Wirklichkeit ist aber nicht so, wie sie Wallraff erfühlt hat. Sie wird auch von den dort arbeitenden Menschen überwiegend nicht so gesehen, wie der Autor seinen Lesern suggeriert.«