aus: Vom Ende der Eiszeit und wie man Feuer macht, KiWi 142

 

Vorwort

Schreib das auf, Wallraff!

Natürlich ist diese Überschrift bloß Abwandlung eines berühmten Buchtitels von Egon Erwin Kisch. »Schreib das auf, Kisch!«, so lautete im Jahre 1930 der endgültige Titel für die Aufzeichnungen eines Tagebuchs, das der 1885 in Prag geborene Schriftsteller während seiner Militärzeit im Ersten Weltkrieg geführt hatte. Das Tagebuch eines bedeutenden Schriftstellers, der auch damals, als Soldat des Habsburgischen Kaiserreichs, nicht »ganz unten« gelandet war. Sohn einer deutschsprachigen jüdischen Kaufmannsfamilie, Student, Dramaturg, Journalist. Berühmt wurde er als solcher durch die Aufdeckung der Hintergründe, die, vor Beginn des Weltkriegs, zum Selbstmord des Geheimdienstchefs Redl führten. Später liest sich die Lebensgeschichte dieses Schriftstellers, der den Bereich der Literatur erweitert hat, in vielen Punkten wie eine Vorwegnahme von Lebensschicksalen und Arbeitsmethoden Günter Wallraffs. Berühmt wurden die Umstände, die zur Entstehung des Buches »Landung in Australien« führen sollten. Man verweigerte ihm die Landung, worauf Kisch, der beglaubigte Delegierte eines »Weltkongresses gegen Krieg und Faschismus«, mit einem sechs Meter tiefen Sprung von der Reling des Schiffes an Land gelangt, ins Krankenhaus gebracht werden muß, nunmehr aber am Kongreß teilnehmen darf.

In einem Text vom Jahre 1977 mit dem Titel »Kisch und Ich heute« hat Günter Wallraff ausführlich dargestellt, was alles ihn mit dem einstigen »Rasenden Reporter« verbindet, und was doch auch wieder grundlegend anders ist an seiner eigenen Arbeitsweise: verglichen mit derjenigen des großen Schriftstellers aus Prag.

Vielleicht ist dieser Text von Wallraff, über seine Konvergenzen und Divergenzen mit dem Vorgänger, der geheime Mittelpunkt des vorliegenden Bandes mit essayistischen, rhetorischen und agitatorischen Arbeiten, die Günter Wallraff zwischen 1959 und 1986 niedergeschrieben hatte. »Gelegenheitsarbeiten« allesamt, was gar nichts gegen ihren dokumentarischen und literarischen Wert aussagt. Viele Werke der bedeutenden Literatur sind auf solche Weise als Gelegenheitsarbeiten entstanden. Ubrigens nahezu alle Texte von Kisch.

Die »Gelegenheit« für den Text über Kisch bestand in der Notwendigkeit einer Klärung, sogar einer Abwehr. Nach Erscheinen seiner ersten Texte hatte man Günter Wallraff immer wieder mit dem sogenannten Rasenden Reporter verglichen. Wallraff muß also Wert auf die Feststellung legen, daß er zu arbeiten begann, ohne mehr von diesem Egon Erwin Kisch gewußt zu haben, als die oberflächliche Kenntnis einiger Texte und eben dieses ebenso geläufigen wie oberflächlichen Wortklischees vom »Rasenden Reporter« vermitteln konnte. Falsch in beiden Fällen, bei Kisch wie bei Wallraff, denn der Reporter im heutigen Sinne beschränkt sich darauf, Tatsachen zu eruieren und der Öffentlichkeit mitzuteilen, was sich da und dort, und unter welchen Umständen, zugetragen hat: Weltgeschichte wie Klatsch. Ein Reporter solcher Art ist Kisch niemals gewesen. Mit Recht konstatiert Wallraff, daß alles Schreiben von Kisch undenkbar wäre ohne Parteilichkeit. Insofern hat Wallraff auch recht, wenn er sich gegen die - unhaltbare - These von Georg Lukács wehrt, die Reportage erfasse bloß die Oberflächen-Wirklichkeit, ohne deren Hintergründe sichtbar zu machen. Natürlich kommt Lukács mit diesem Fehlurteil, das weder Kisch noch irgendeinen anderen großen Journalisten richtig kennzeichnet, auf seinen Lieblingsgedanken zurück, daß der große sozialkritische Roman nun einmal den Gipfel aller Schriftstellerei darzustellen habe. Das war eine klassizistische These, gegen welche sich schon Brecht und Egon Erwin Kisch genauso gewehrt hatten wie diesmal Günter Wallraff. Bei Wallraff heißt es daher, und das ist durchaus richtig: »Dem liegt ein Mißverständnis zugrunde, ein Mißverständnis, von dem auch die Photographie betroffen ist. So wenig wie diese nämlich bloß >objektiv< ist, weil sie Perspektive, Belichtung und Kontrast bewußt einsetzen kann, so wenig ist auch die Reportage nur Faktenhuberei.« Indem sich Wallraff jedoch in seiner Arbeitsweise und Motivation auch wieder von Kisch abgrenzt, hat er zugleich die damalige Erweiterung der Literatur durch Kisch konfrontiert mit seiner eigenen literarischen Bemühung um neue Formen der Schriftstellerei.

Egon Erwin Kisch war genährt im Elternhaus wie in der Prager Umwelt der Jahrhundertwende, wozu Kafka und Werfel und Rilke gehört hatten, wie viele noch, vom Ausdruckszwang. Die übermächtige Lust des Berichtens und Schreibens, stets in höchst persönlicher Ausdrucksform, lag allem zugrunde. Dann erst folgte die Thematik: als Aufdeckung der Verbrechen und unwürdigen Lebensformen.

Günter Wallraff, wenn man es richtig versteht, ist wohl den umgekehrten Weg gegangen. In seinem Einleitungstext »Vorzüge und Nachteile eines >Ideal-Berufes<« von 1959 liebäugelt er, als Sechzehnjähriger, in einem Schulaufsatz mit der Rolle des Narren: »Stülpen wir uns die Narrenkappe über und treten wir auf im ganzen großen Zirkus, wir Hans-Würste, Clowns und Harlekine.« Ubrigens wurde dieser Schulaufsatz geschrieben vier Jahre vor den berühmten »Ansichten eines Clowns« von Heinrich Böll.

Die Permanenz einer Narrenrolle ist aber unter heutigen Lebensumständen undenkbar. Ein Narr oder Clown braucht die Vorstellung. Nach deren Ende hat der Alltag einzutreten. Günter Wallraffs Texte seit diesem Jugendbericht, den er mit gutem Grund hier wieder abgedruckt hat, bestätigen diese Erfahrung. Andererseits muß bereits dem sechzehnjährigen Schreiber klargewesen sein, daß nicht derAusdruckszwang bei ihm Vorrang besitzt, sondern die Erforschung verborgener Wirklichkeiten. Uberaus hellsichtig und selbstkritisch hat Wallraff, um den Gegensatz zu Kisch auszudrücken, seine eigene literarische Inspiration in folgendem Satz zusammengedrängt: »Ich muß selbst erst zum Betroffenen, notfalls zum Opfer werden, um über die Situation der Opfer dieser Gesellschaft schreiben zu können.« Dieser Satz könnte als Motto über allen Büchern Günter Wallraffs stehen und auch über allen Berichten über seine Aktivitäten, Illegalitäten, Prozesse und Enthüllungen.

Dies ist ein singuläres Bekenntnis, und es bleibt wichtig, über den besonderen Fall Günter Wallraff hinaus, weil hier neue und durchaus zeitgenössische Formen der Literatur erkennbar werden. Interessanterweise nämlich hat Wallraff seiner Auseinandersetzung mit Kisch den Untertitel gegeben »Uber die logische Phantasie«. Auch in vielen anderen Texten des vorliegenden Bandes kehrt dieser Ausdruck »Phantasie« wieder, womit das gemeint ist, was die deutsche Sprache als »Einbildungskraft« zu bezeichnen pflegt. »Die Phantasie an die Macht!«, das war im Jahre 1968 ein Kampfruf der Pariser Studenten. Wallraff beruft sich einmal in einem früheren Text auf Peter Schneider und dessen Untersuchung von 1968 über die Rolle der Phantasie unter den gesellschaftlichen Umständen des späten Kapitalismus. Freilich konnte Wallraff damals nicht ahnen, daß Peter Schneider selbst später, nach so vielen verlorenen Illusionen, gestehen mußte, er stehe diesem so berühmt gewordenen Aufsatz nunmehr mit großer Skepsis gegenüber. Die »logische Phantasie« Günter Wallraffs meint aber noch etwas anderes; sie unterscheidet sich auch von dem, was man 1968 in Paris postuliert hatte. Wallraff ist in seiner Arbeitsweise offenbar das genaue Gegenteil der Arbeitsweise von Max Frisch und seinem »Herrn Gantenbein«. Diese Kunstfigur von Frisch lebt mit dem Motto: »Ich bilde mir ein...«. Günter Wallraff mißtraut der eigenen Einbildungskraft. Er braucht die reale Erfahrung des Unrechts, der Demütigung, eines Lebens ganz unten, unter dem Bodensatz der Gesellschaft. Er muß erlebt haben, was er später beschreiben soll. Nicht bloß beschreiben übrigens, sondern wirklich erzählen. Das unterscheidet ihn von all jenen, die in ihrer eigenen Tiefe von jeher den Ausdruckszwang gespürt hatten. Sie konnten sich, mit Hilfe von Dokumenten, auch das Schreckliche »einbilden«, um es auszudrücken. Anna Seghers schrieb den Roman »Das siebte Kreuz«; allein sie selbst war nicht in einem Konzentrationslager.

Wallraff braucht nicht allein die Erfahrung des Opfers und des Unrechts, sondern auch die Erfahrung der jeweiligen Rolle, die er zu spielen hat: innerhalb wie außerhalb bestehender Gesetze und Vorschriften.

Eben deshalb muß man die ausführliche Rede Wallraffs mit dem Titel »Vom Ende der Eiszeit und wie man Feuer macht«, die er im Jahre 1973 auf einer Delegiertenversammlung des »Werkkreises Literatur und Arbeitswelt« gehalten hat, mit Skepsis lesen. Deutlich spürt man noch jene Losungen von 1968, die das Ende aller Literatur prophezeit hatten, welche nicht politische Praxis der Veränderung sein wolle. Damals hatten die Thesen vom »Bitterfelder Weg« der Literatur in der DDR auch im Westen zur literarischen Konroverse geführt. Aus der berechtigten Forderung, man solle gefälligst die Welt der Arbeit im weitesten Sinne nicht aussparen bei der Schilderung heutiger Realitäten, war die hybride Forderung erwachsen: bloß diese Welt der Arbeit sei ein würdiger Gegenstand für den heutigen Schriftsteller.

So gründlich und genau Wallraff, auch als literarischer Sach-kenner, in dem Text über Kisch und in anderen Beiträgen des Bandes formuliert, so sehr zeigt ihn jene Nürnberger Rede von 1973, deren Titel er nunmehr auch zum Titel des vorliegenden Bandes gemacht hat, in literarischen Vorurteilen befangen.

Es ist unhaltbar, wenn er damals schrieb: »Bis vor kurzem tat es ein Schriftsteller der deutschen Gegenwartsliteratur bei seiner Roman-Hauptfigur selten unter einem Architekten. Das war noch das Profanste, was man sich und seinen Lesern zumutete.« Soll man wirklich alle gegenwärtigen und historischen Gegenbeispiele aufzählen: von Balzac und Zola, dessen Roman »Germinal« gerade von Wallraff sehr genau interpretiert wurde, von Dickens bis Tolstoi? Von Gerhart Hauptmanns »Bahnwärter Thiel« über den Franz Biberkopf in »Berlin Alexanderplatz« bis zu den Romanen der Anna Seghers? Wenn man es genau analysiert, so gehört Günter Wallraff mit seiner besonderen und singolären Arbeitsweise durchaus nicht zum Klischee »Literatur der Arbeitswelt«. Er arbeitet anders, und seine Thematik ist gar nicht so weit entfernt von den großen Traditionen der epischen Literatur. Seine Bücher sind gerade auch dort, wo sie den Leser erschüttern müssen, zugleich so etwas wie Schelmenromane. Günter Wallraff tritt in seinen Rollen bisweilen auch als Moralist der falschen Couleur, wie ein neuer Hochstapler Felix Krull, auf die literarische Szene. Nur: seine Bücher sind nicht Erzeugnisse der Einbildungskraft, ersonnen am Schreibtisch. Sie mußten in einer schmerzhaften Wirklichkeit, unter dem Signum des Opfers, erprobt werden. Vielleicht haben sie dadurch gerade so viele Leser erreichen können, die es vorher noch niemals gedrängt hatte, einen Buchladen zu betreten und dort etwas zu kaufen.

Und noch eins: Wallraffs Arbeitsweise gleicht in vielen Augenblicken den Methoden eines Dramatikers, der selbst zugleich Schauspieler ist. Wer so viele Rollen virtuos zu spielen weiß und für die Helden wie die Schurken das Gefühlsmaterial in sich selbst vorfindet, vermag auch solche Gestalten aus eigener »logischer Phantasie« zu entwerfen. Es wäre denkbar, daß auch der Schriftsteller Günter Wallraff irgendwann einmal diesen Weg gehen könnte.

Hans Mayer

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