Datum=21.10.2010; Quelle=HAZ; Ressort=MEDI

„Sarrazin ist dagegen ein Fliegenschiss“

 

Vor 25 Jahren schlüpfte Günter Wallraff in die Rolle des Türken Ali und

brach mit seinem Bestseller „Ganz unten“ alle Rekorde - jetzt bereitet er

sich auf einen Ausflug in höhere Kreise vor.

 

Von Heinrich Thies

 

Es gilt als das erfolgreichste deutsche Buch seit dem Zweiten Weltkrieg.

Schon nach drei Wochen waren über eine Million Exemplare verkauft, es wurde

in 38 Sprachen übersetzt. Am Ende lag die Auflage bei fünf Millionen -

allein in Deutschland.

 

Vor 25 Jahren schlüpfte Günter Wallraff in die Rolle des Türken Ali und war

mit seinem Erfahrungsbericht „Ganz unten“ sofort ganz oben. „Ali“ Wallraff

jobbte als Hilfskraft bei McDonald's, als Leiharbeiter auf einer

Großbaustelle und bei ThyssenKrupp, stellte sich als Versuchskaninchen der

Pharmaforschung zur Verfügung und erlebte, wie Türken buchstäblich als der

letzte Dreck behandelt werden. Das Echo war enorm. Der alltägliche Rassismus

wurde angeprangert, Leiharbeitsfirmen gerieten unter Druck,

Hygieneverhältnisse und Arbeitnehmerrechte bei McDonald's kamen auf den

Prüfstand.

 

„Im Vergleich zur Langzeitwirkung von ,Ganz unten’ ist Sarrazin ein

Fliegenschiss“, sagt Wallraff, der gerade mit seinem neuen Buch „Aus der

schönen neuen Welt“ auf Lesereise ist und seinen Bestsellerrekord

verteidigt. Die Sarrazin-Debatte im Jubiläumsjahr seines Megabestsellers

nutzt der 67-Jährige auch sonst zu einigen Klarstellungen. „Sarrazin blickt

mit der Haltung eines Herrenmenschen auf die Ausländerproblematik, geprägt

von Verachtung und Verächtlichmachung“, sagt Wallraff. „Diese Aufgeregtheit

und hochgespielte Hysterie wird in wenigen Monaten in sich zusammenfallen.“

Besorgniserregend sei aber schon, dass nach neuesten Umfragen 50 Prozent der

Deutschen fremdenfeindlich eingestellt seien.

 

In seiner Rolle als Ali hat Wallraff am eigenen Leibe erfahren, was dies

bedeutet. „Das war ein Gefühl der totalen Entrechtung, verbunden mit

Ausgrenzung und rassistischer Anmache.“ Bei einem Fußballspiel hatten

Neonazis „Türken raus“ gebrüllt, ihm Zigaretten ins Haar geworfen und Bier

über den Kopf gekippt. Besonders erniedrigend sei gewesen, was er in einer

Baukolonne bei ThyssenKrupp erlebt habe, erzählt er. „Der Vorarbeiter hat

verlangt, dass ich meinen Schutzhelm deutschen Kollegen überlasse, einen

Helm, den ich mir selbst gekauft hatte.“ Dazu die Drohung: „Sonst ich dich

entlasse.“

 

Bizarr mutet eine Begegnung mit Franz Josef Strauß in der Passauer

Nibelungenhalle an. „Ich bin nur an ihn rangekommen, weil ich mich als

Angehöriger der ,Grauen Wölfe’ ausgegeben habe, mit deren rechtsradikalem

Chef Strauß befreundet war“, sagt Wallraff. „Strauß hat mir die Festschrift

geschenkt - mit der Widmung ,Für den lieben Ali’.“

 

Mit den Einnahmen aus „Ganz unten“ gründete Wallraff die Stiftung „Zusammen

leben“ und finanzierte unter anderem die Sanierung eines Altbaukomplexes in

Duisburg, in dem Deutsche und Türken leben - eine Wohnsiedlung, die als

Modellprojekt gilt. Gleichzeitig distanzierte sich der in Köln lebende

Undercoverautor immer wieder von islamistischer Indoktrination oder den

Aktivitäten der kurdischen Arbeiterpartei PKK. Obwohl sein Herz links

schlägt, scheute sich der Enthüllungsjournalist nicht, Freundschaften mit

Unionspolitikern wie Heiner Geißler oder Norbert Blüm zu pflegen.

 

Nach dem Welterfolg von „Ganz unten“ wurde es lange Zeit still um ihn.

Gesundheitliche Probleme belasteten Wallraff eine Zeit lang. Mitte der

neunziger Jahre aber bewegte er sich fernab der deutschen Arbeitswelt als

iranischer Fremdarbeiter durch die Straßen Tokios - für eine Reportage, die

mit versteckter Kamera gefilmt und von acht Millionen Japanern im Fernsehen

gesehen wurde.

 

In Deutschland meldete sich der passionierte Marathonläufer 2007 mit seinen

Expeditionen in die Hinterhöfe der Gesellschaft zurück. Den Auftakt bildeten

Einsätze in einer Großbäckerei und einem Callcenter. Im Zuge einer

Reportagereihe für das Buch „Aus der schönen neuen Welt“ kam Wallraff im

Winter 2009 auch nach Hannover und erlebte als Obdachloser eine bedrohliche

Nacht in einem Bunker für Nichtsesshafte.

 

Vorher will der Aufklärungsjournalist bereits wieder inkognito unterwegs

sein. Zwei Rollen bereite er gerade vor, sagt er. Einzelheiten sind

natürlich noch streng geheim. Doch Wallraff verrät: „Diesmal gehe ich nicht

nur in die Niederungen, diesmal mache ich auch einen Ausflug in höhere

Kreise.“