aus: FR 26.06.2001 Es ist ein Stich ins Herz Ein Streitgespräch zwischen Günter Wallraff, dem Mann, der bei Bild Hans Esser war, und dem früheren Chefredakteur Hans-Hermann Tiedje Das fängt ja gut an: Der eine verträgt keinen Zigarrenrauch, der andere kann ohne eine schmauchende Havanna nicht denken. Günter Wallraff braucht frische Luft, rät zu Kaffee oder Schnaps. Für Hans-Hermann Tiedje keine Alternative zur geliebten Zigarre, doch dann zeigt er sich jovial: "Gib mir mal 'nen Aschenbecher. Ich lass' sie ausgehen." Es ist eine Begegnung der besonderen Art, die da in Köln stattfindet: Der Schriftsteller Günter Wallraff ist der Mann, der 1977 bei Bild Hans Esser war und mit seinem Buch "Der Aufmacher" dem Springer Verlag die Nerven blank legte. Hans-Hermann Tiedje kennt den Verlag in- und auswendig, stand er doch mehr als fünf Jahre lang an der Spitze der Bild-Zeitung. Es ist das erste Mal, dass ein Springer-Mann, wenn auch ein ehemaliger, und der Erzfeind des Konzerns zusammentreffen. Fast ein Vierteljahrhundert nach Erscheinen der Bücher "Der Aufmacher", "Zeugen der Anklage" und "Bild-Störung". Es geht in dem FR-Gespräch, das Ingrid Scheithauer und Katrin Wilkens moderierten, um Bild, um Springer und die Zeitläufte, um die Kritik an dem Medien-Konzern, um Journalismus im Allgemeinen und Boulevard-Journalismus im Besonderen. FR: Herr Tiedje, Sie waren Chefredakteur der Bild-Zeitung von 1989 bis 1992. Hat Günter Wallraff in seinem Buch "Der Aufmacher" die Arbeitsweise der auflagenstärksten deutschen Boulevard-Zeitung richtig erfasst und beschrieben? Hans-Hermann Tiedje: Ich habe den "Aufmacher" bis heute nicht im Detail gelesen, ebenso wenig wie das Anti-Buch von Springer, das dagegen gesetzt wurde. Ich habe an dem Journalisten Wallraff vieles auszusetzen, aber ich kannte Günter Wallraff andererseits als beinharten Reporter mit manchmal enormen Qualitäten. So einen wie den hätten wir in meiner Zeit bei Bild oft gern gehabt. Allein dieses Foto von Wallraff auf Gerlings Schreibtisch oder dass einer hingeht und sich in Athen ankettet, um gegen die Junta zu protestieren und daraus eine Riesengeschichte macht, oder die Sache als Türke Ali - all diese Geschichten kannte ich natürlich, und ich kannte auch das Gesicht dieses Mannes. Deswegen habe ich mich immer gefragt: Wie konnte dieser Mann Reporter werden bei Bild, ohne dass man ihn erkannte? Günter Wallraff: Ich hatte mich schon ziemlich umgekrempelt. Ich hatte mich damals, zu einer Zeit, als man lange Haare trug, zu einem sehr schneidigen Typen umstilisiert und als Bewerbungsköder angegeben, ich sei zuvor Leutnant bei der psychologischen Kriegsführung gewesen, obwohl ich Kriegsdienstverweigerer bin. Tiedje: Natürlich kannte ich auch das Foto von Hans Esser; dennoch habe ich mich immer gefragt: Wie war das möglich? Denn: Jenseits der sachlichen Auseinandersetzung war das zunächst doch vor allem ein Lacherfolg. Aber das Lachen blieb einem doch im Hals stecken, angesichts der aufgedeckten Machenschaften. Tiedje: Damals haben eine ganze Menge Leute zunächst einmal darüber gelacht. Erst schleicht sich Wallraff bei Gerling ein, dann auch noch bei Bild. Bevor ich Wallraff überhaupt kannte, habe ich mindestens zehn Mal in unserer Redaktion gesagt: Wir brauchen einen wie Wallraff. Wo sind Reporter, die hingehen, beobachten, alles in sich reinziehen und es dann Punkt für Punkt zu Papier bringen? Die Erlebnismitteilungen schreiben. Und nicht Feuilletonisten, die theoretisch über irgendetwas schwafeln. Manches von dem, was er beschreibt, habe ich durchaus für möglich gehalten - auch in Kenntnis der Dinge, wie Bild zu bestimmten Zeiten, nämlich den Wallraff-Zeiten, gemacht worden ist. Nach dem Motto: Auflage, Auflage, Auflage. Auflage ist alles. Die Wahrheit ist: Auflage ist für einen wirklich guten Chefredakteur nicht alles. Ich will hier jetzt keine Verantwortungsdebatte führen, und es gibt selbstredend einen enormen Druck. Der Erfolg eines Blattes wie Bild misst sich natürlich vor allem an der Auflage am Kiosk. Andererseits: Dass man nun Reporter oder Redakteure in den Zustand bringt, dass sie nach Pawlow'schen Reflexen wirklich alles machen, um zum Auflagenerfolg beizutragen, das war nie mein Ding. Dass so etwas allerdings unter einer ganz bestimmten gewissen Vorgänger-Administration passiert ist, ist mir völlig klar in Kenntnis der handelnden Personen. Wallraff: Bei mir war es Günter Prinz, der damals als Chefredakteur von Bild die politischen Vorgaben bestimmte und Schlagzeilen wie Schlagstöcke zu handhaben wusste und später in den Konzern-Vorstand aufstieg. Tiedje: Ehre, wem Ehre gebührt. Wallraff: Mein unmittelbarer Redaktionsleiter - ich nenne ihn im Buch Thomas Schwindmann - war gar nicht einer der außergewöhnlichen Scharfmacher, eher so mittlerer Durchschnitt in all seinen Aktionen. Er hatte Pech gehabt, dass er erwischt wurde, dass ausgerechnet er später diesen Einbruch zu verantworten hatte, den "Vampirfall". Einer der ganz schlimmen Bild-Exzesse: Bei einem Jugendlichen, der wegen Verstoß gegen das Drogengesetz vorübergehend inhaftiert worden war, wurden zwei Ampullen Blut gefunden. Bild leckte Blut und stempelte diesen Jungen, der unter Verdacht stand, gegen das Drogengesetz verstoßen zu haben, in einer Serie zum "Vampir von Sachsenhausen", zum blutrünstigen Monster. Zum Schluss wurde er sogar mit dem Massenmörder Haarmann verglichen, der immerhin 22 Menschen durch Bisse in die Kehle getötet hatte. Der Junge saß in Haft und konnte sich nicht wehren. Was nachher übrig blieb, waren zwei Ampullen Eigenblut, die er sich zur Bestimmung der Blutgruppe im Rahmen des Biologieunterrichts selbst abgenommen hatte. Schwindmann jedenfalls ist dabei zu sehr ins Gerede gekommen und wurde strafversetzt. Er musste dann das Frauenressort übernehmen, das war bei Bild wohl so ziemlich das niederste Ressort. Tiedje: Diese Dinge, die hier behauptet werden, haben sich in meiner Zeit nicht abgespielt. Aber vermutlich stimmen manche der von Wallraff beklagten damaligen Zustände, und ebenso wahrscheinlich stimmen viele Vorwürfe auch nicht. Wallraff: Herr Tiedje, es sind inzwischen gerichtsbeglaubigte Bücher! Der Springer-Konzern hat alles versucht, Teile des Buchs verbieten und zensieren zu lassen - bis in die Nebensätze hinein. An den Fakten kommen Sie nicht vorbei. Tiedje: Aber Sie sind nun wirklich kein Heiliger, Sie haben auch eine Menge Prozesse verloren. Wallraff: Nicht wegen falscher Behauptungen. Sondern wegen eines so genannten Tatbestandes des Einschleichens hatte ein Hamburger Richter etliche Passagen zensiert, der Bundesgerichtshof und das Bundesverfassungsgericht haben diese Urteile wieder aufgehoben und meine Arbeitsmethode als legitim anerkannt. Im Urteil des BGH stand wörtlich, da es sich bei der Bild-Zeitung um eine Fehlentwicklung des deutschen Pressewesens handele, müsse meine Methode des Täuschens dennoch legitim sein und das wirtschaftliche Interesse des Konzerns hinter dem Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit zurücktreten. Tiedje: Auch Verfassungsrichter unterliegen Vorurteilen. Herr Wallraff, ist die Aussage von Herrn Tiedje, in seiner Mannschaft habe ein Wallraff gefehlt, ein echtes oder eher ein zweifelhaftes Kompliment? Wallraff: Es ist ein Stich ins Herz. Aber im Ernst: Da ist doch ein gewaltiger Unterschied in den Methoden,die ich anwende und jenen, die Bild immer wieder angewendet hat. Da gibt es welche, die alsKrankenpfleger verkleidet mit einem Blumenstrauß bewaffnet den Leuten ins Haus fallen, in diePrivatsphäre eindringen und das bei Leuten, die sich nicht wehren können. Da gab es einen Chefreporter,heute noch in verantwortlicher Position im Springer-Konzern, der vor versammelter Mannschaft diekriminellen Methoden von Bild rechtfertigte mit den Worten: "Jeder gute Bild-Reporter hat schon maleingebrochen. Ich habe auch schon eingebrochen." Da gibt es die verbrecherischen Methoden der Bildbeschaffung. Da die Losung ist, ohne Fotos keine Geschichte, fallen Bild-Reporter Angehörigen von Unfall- oder Mordopfern mit den Worten ins Haus: "Wenn Sie uns keine Fotos Ihres verstorbenen Kindes herausrücken, veröffentlichen wir welche aus dem Leichenschauhaus. Sie haben die freie Wahl." Das sind Menschen, die nicht die Macht haben, juristisch dagegen vorzugehen. Das sind die Methoden der Bild-Zeitung. Ich lege meine Methoden offen auf den Tisch, stelle sie nachher zur Diskussion und halte sie auch nur dann für gerechtfertigt, wenn ich sie aus der Position des Schwächeren absolut Mächtigeren gegenüber anwende und ihre Privatsphäre - übrigens auch die von Herrn Springer oder Herrn Gerling - waren für mich absolutes Tabu. Ich habe den Eindruck, Herr Tiedje, Sie verklären das oder haben Vieles verdrängt. Oder Sie waren zu kurz bei Bild? Sie waren von allen Chefredakteuren am kürzesten bei Bild. Tiedje: Da liegen Sie wieder falsch. Ich war gut drei Jahre Chefredakteur und davor zwei Jahre stellvertretender Chefredakteur. Also insgesamt war ich fünf Jahre da. Und ich will einmal etwas klarstellen: Ich finde Ihre Sprache und Ihre Behauptungen maßlos. Und noch was: Wenn ich damals gesagt habe, wir brauchen jemanden wie Wallraff, dann ist das investigative Moment, der innehaltende Reporterjournalismus gemeint und nicht der Reporter, der mit einem Blumenstrauß verkleidet irgendwo hingeht. Und noch etwas: Sie, Wallraff, sind überhaupt erst in der Auseinandersetzung mit Bild zu einer Marke geworden. Wallraff: Vielleicht für Sie! Herr Tiedje, jetzt mal unter uns. Sie geben ja wohl zu, dass ein Konzern wie Gerling, der zu den Säulen unseres Systems gehört, in der Ägide von Axel Springer kein Thema für die Bild-Zeitung hätte sein dürfen. Das wäre mit einem Anruf erledigt worden. Man darf nicht vergessen, dass es in Köln Buchhandlungen gab, in denen mein Buch nicht verkauft werden durfte. Es gab Grossisten, die ihre Kioske anwiesen, dass sie dieses Buch nicht verkaufen dürften. Wo gibt es auch nur ein Beispiel bei Bild, wo die heiligen Kühe unserer Wirtschaft so grundsätzlich angegangen wurden und auch entblödet wurden, wie ich es mir immer wieder erlaubt habe? Tiedje: Bild hat zu keiner Zeit Angst vor mächtigen Unternehmen gehabt. Ich auch nicht. Wer recherchiert, stellt das an Beispielen leicht fest. Wallraff: Es gibt sie nicht. Sie leiden wohl an Amnesie! Tiedje: Keineswegs, aber jetzt mal grundsätzlich: Die Bild-Zeitung ist geschäftlich ein sehr erfolgreiches Unternehmen. Heute noch viel erfolgreicher als zu meiner Zeit. Damals haben wir mit Bild einen Umsatz von vielleicht einer Milliarde Mark gemacht und einen Gewinn von vielleicht 150 Millionen Mark. Heute ist der Umsatz, vermute ich mal, 1,2 bis 1,3 Milliarden Mark, und durch das gewachsene Anzeigenaufkommen der Regionalausgaben dürfte der Gewinn bei 200 Millionen Mark liegen. Doch um dieses Blatt zu verkaufen, braucht man Schlagzeilen. Und so ist es nun einmal bei Bild: Als Chefredakteur guckst du regelmäßig in die Runde und gelegentlich siehst du die toten Augen von Hamburg. Du brauchst eine echte Schlagzeile, damit du das Blatt verkaufst, das ist so bei einer Volkszeitung. Das mag vielleicht bei Blättern wie der Frankfurter Rundschau weniger geläufig sein - aber die Bild-Zeitung muss sich jeden Tag am Kiosk verkaufen. Um das klar zu machen: Wenn wir den Mediensozialismus hätten, dann könnten wir jedem einen dpa-Ticker in die Wohnung stellen und alle lesen das Gleiche und wissen das Gleiche. Aber wir haben eine Mediendemokratie. Da kaufen die einen die FR, die anderen die Welt oder die Süddeutsche. Und nun kommt die Bild-Zeitung als bundesweites Massenblatt daher und muss sich jeden Tag verkaufen. Also braucht sie ausgereizte Schlagzeilen. So! Und diese ausgereizten Schlagzeilen sind Stärke und Problem zugleich. Wenn sie gut sind, dann ziehen sie die Leser an, dann machen sie Auflage. Und wenn sie schlecht sind, dann bleibt das Blatt liegen. Wallraff: Wie viel Bild-Leser lesen keine andere Zeitung zur Korrektur? Das sind doch etwa 80 Prozent? Tiedje: Falsch geraten. Weniger als 50 Prozent. Bei der Hälfte ist Bild ein Zweit-Medium. Und übrigens, jeder Bild-Leser schaut Fernsehen. Wallraff: Als Print-Medium ist Bild immer noch beherrschend. Herr Wallraff, hat sich die Rolle und die Position der Bild-Zeitung in der gewandelten Medienlandschaft geändert? Wie ist das mit der von Herrn Tiedje ins Feld geführten Mediendemokratie? Wallraff: Bei den seriösen Zeitungen kann man schon größere Sensibilität und Aufklärungsbereitschaft feststellen. Das gilt für die Blätter, die keine beherrschende Stellung haben. Insgesamt aber sehe ich eine schlimme Tendenz zur Boulevardisierung. Allein die Tatsache, dass Bild heute zitierfähig ist. Allein die Tatsache, dass dieses Blatt noch immer Politiker mitformt und selbst Politik macht. Ob der Bundeskanzler seine "Faulheitsdebatte" über Bild in den Mund gelegt bekam oder - ganz populistisch - von den eigentlichen Problemen ablenken wollte, das weiß ich nicht. Dennoch: das Blatt hat nach wie vor großen Einfluss, eine unheimliche Macht. Springer sprach immer von seinem Kettenhund. Das heißt, er konnte ihn auch bei Fuß, vielleicht mit Maulkorb daliegen haben. Viele wussten, wenn er ihn loslässt, dann zerfleischt sie dieser Kettenhund auch. Das erlebt man heute noch. Siehe Sebnitz. Bild eröffnet das Spektakel und beschuldigt eine ganze Stadt im Osten Deutschlands, einen Kindermord als Mitwisser zu decken. Ein Vorurteil wird bedient. Es wird unmäßig übersteigert. Aber dass sich die seriöse Presse auf Bild beruft, ist für mich das noch Bedenklichere. Einer Mutter im Schmerz um ihr totes Kind kann man einiges nachsehen, der Presse nicht. Oder denken Sie an die Trittin-Kampagne, die diesmal noch nicht gezündet hat, aber den Politiker fast zur Strecke gebracht hätte, wenn das Originalfoto nicht aufgetaucht wäre. Das zeigt doch, dass Bild wieder in seine alten Strukturen zurückfällt, wenn es darum geht, eine Regierung nicht nur zu schädigen, sondern gezielt einzelne rauszuschießen. Ich habe den Eindruck, dass durch den Wechsel an der Spitze des Blattes Leo Kirch seinen Einfluss geltend macht. Mit alten, plumpen Fälschungen wird so etwas bewerkstelligt. Da wird aus einem Stück Stahlseil ein Schlagstock und aus einem Kranteil ein Bolzenschneider gemacht und damit Trittin zum Gewalttäter. Doch dieses Mal ist es nicht gelungen. Weil es mittlerweile eine wachsamere, kritischere Gegenöffentlichkeit gibt, die es zu meiner Zeit in der Form nicht gab. So eine Art Bewährungshelfer für Bild. Bild ist nach wie vor ein Blatt, das die meisten Rügen vom Presserat einsteckt. Aber das beeindruckt die anscheinend nicht. Tiedje: Hier muss ich umfassend widersprechen. Selbst die Mutter eines toten Kindes darf nicht alles, vor allem nicht lügen. Richtig ist, bei Sebnitz, bei diesen Schilderungen der Mutter, sind fast alle reingefallen. Aber was wäre umgekehrt gewesen? Hätte Bild dieses Thema nicht groß gemacht, aber es hätte sich herausgestellt, dass die Geschichte stimmt, dann wären genau Sie, Wallraff, aufgetreten und hätten angeklagt: Siehste, weil es Rechtsradikale waren, die den Jungen umgebracht haben, versteckt Bild die Geschichte. Die haben heimliche Sympathien. So... oder so ähnlich. Nun wurde aber genau die falsche Geschichte riesengroß präsentiert, und jetzt kommt Wallraff und setzt sich zur Frankfurter Rundschau an den Tisch und sagt: ja, typisch, Kampagne. Die Wahrheit ist: Alle die Blätter und Sender, die darüber berichtet haben, hätten die Möglichkeit gehabt, diesen Vorgang umfassend genug zu recherchieren. Sebnitz, Herr Wallraff, ist für Sie wieder eine gute Gelegenheit zu sagen, ja, Tiedje, da hast du Recht. Sebnitz ist keine Bild-Schandtat, sondern ist ein Fehler, der passieren kann. Übrigens: Bild hilft heute Sebnitz. Das ist mir von anderen nicht bekannt. Und was den Presserat anbelangt: Den halte ich in der Tat für ein zu vernachlässigendes Gremium. Warum ist dieses Gremium der Selbstregulierung aus Ihrer Sicht ein zahnloser Tiger? Tiedje: Ich weiß nicht, ob er ein zahnloser Tiger ist. Ich weiß nicht, wie er draußen ankommt. Ich habe jedenfalls mich nie mit jemanden darüber unterhalten, wie das ist, wenn der Presserat einen rügt. Ich kann oft seine Entscheidungen nicht nachvollziehen, das können auch andere nicht. Gruner + Jahr hat lange keine Rügen des Presserates abgedruckt - warum wohl? Und noch ein Wort dazu, Bild sei angeblich der Kettenhund von Axel Springer gewesen. Wir alle haben ja damals auch das Gespräch gelesen zwischen Springer und Ben Witter: Da sagte Springer, er leide manchmal wie ein Hund. Wallraff: ... wenn er morgens die Bild-Zeitung lese. Dieses freimütige Bekenntnis erfolgte allerdings erst unter enormem Druck der Öffentlichkeit, nachdem ich Bild als "professionelle Fälscherwerkstatt" und als das "Zentralorgan des Rufmordes" kenntlich gemacht hatte. Tiedje: Ich weiß, was er damit gemeint hat. In jener Zeit, in der die Auseinandersetzungen zwischen Ihnen und dem Haus Springer liefen, ging die Bild-Zeitung öfter und definitiv deutlich über die Grenzen des Zulässigen hinaus. Frauen der RAF wurden grundsätzlich als Terror-Mädchen bezeichnet. Die ganze Sprache damals. Man darf aber nicht vergessen: Der Terrorist Andreas Baader hatte dem Springer-Verlag eine Bombe ins Haus geschmissen und mehreren Leuten waren die Beine abgerissen worden. Die Redaktion hatte eine regelrechte Psychose. Damals wurden die Namensschilder der Redakteure an den Türen weggenommen, nicht, weil gerade Wallraff unterwegs, sondern weil die RAF zugange war. Wallraff: Aber Tiedje, jetzt lenken Sie aber ab und verschweigen die so genannte Sympathisantenhetze der Springer-Presse, die Böll, Grass und auch mich für die Terroraktionen der RAF mit verantwortlich machte. Tiedje: Nein, überhaupt nicht. Nein! Die so genannte Sympathisantenhetze ist ein Kampfbegriff aus jenen Tagen. Tempi passati. Heute ist die Bild-Zeitung Tag für Tag für ein mediales Gesamtkunstwerk, eine perfekt gemachte Zeitung, die Volkszeitung, eben das deutsche Massenblatt. Wie beurteilen Sie das Trittin-Foto, das die Bild-Zeitung stark manipuliert druckte - offensichtlich um den Grünen-Politiker zu diskreditieren. Ist das auch so ein Fehler, der einfach passieren kann? Tiedje: Es ist einfach passiert, aber meinen Sie wirklich, da sei der Chefredakteur Diekmann in die Redaktion marschiert und hätte gesagt "Leute, passt auf, wir machen aus einem Drahtseil einen Bolzenschneider"? Das glauben auch Sie keine Sekunde. Warum sollte er die Order zur Manipulation eines Fotos geben, das einen Tag vorher im Original in Focus erschienen ist und damit in einer Auflage von 800 000 zu sehen war und in der richtigen Fassung am Tag vorher auch noch im Fernsehen? Wallraff: Nun weiß man ja von Diekmann, dass der nicht nur Kohls Hofbiograf ist, sondern auch engster Vertrauter und Protegé von Leo Kirch. Da passt doch wohl Einiges. Tiedje: Kann es sein, dass Sie unter einer Kohl-Phobie und einem Kirch-Syndrom leiden? Man sprach Anfang des Jahres von einer Kampagne der Springer-Blätter Bild und Welt gegen die rot-grüne Bundesregierung. Herr Tiedje, was ist eigentlich eine Kampagne? Tiedje: Kampagnefähig ist ein Thema, das die Leute im tiefsten Innersten anrührt und bewegt und das man über einen langen Zeitraum zieht. Boulevard, geschickt gemacht, wird immer auch an solchen Aufbereitungen gemessen. Eine Kampagne dauert nicht nur drei Tage. Der Benzinpreis zum Beispiel, die Ökosteuer, das wären klassische Themen für eine Kampagne gewesen. Ich habe mich gewundert, dass das nicht gemacht wird. Zwei oder drei Tage Ökosteuer - das ist keine Kampagne. Aber es laufen keine Kampagnen zur Zeit. Der Chefredakteur Kai Diekmann hat mehrfach geäußert, er wolle das nicht - auch nicht gegen Rot-Grün. Insgesamt lässt sich sagen: Die Gangart des Boulevard ist heute viel zivilisierter als vor zwanzig Jahren. Wallraff: Natürlich war das eine Kampagne, an der auch andere Springer-Blätter beteiligt waren, das hing, so sagen Insider, mit Kirchs politischer Einflussnahme zusammen. Was ist Boulevard total? Die öffentliche Hinrichtung von Politikern? Tiedje: Dass man bestimmte Geschmacksgrenzen überschreitet, die ich jetzt gar nicht definieren will. Aber Bild ist nicht Boulevard total. Wallraff: Aber es wird Stimmung gemacht: Weil Nachricht und Kommentar vermengt werden, weil es auf die Spitze getrieben wird, und weil es dann noch in Form einer Agitation erfolgt. Das ist der Unterschied. Bild differenziert nicht. Bild hat über Jahrzehnte diesen Stil geprägt und ist auch unmäßig damit umgegangen und hat das Ganze noch überdreht. Wenn man Bild vergleicht mit anderen, etwas gemäßigteren Boulevard-Zeitungen, kann man einen Vergleich aus der Drogentherapie nehmen: Bild ist Heroin pur und andere Boulevard-Zeitungen wie die Münchner Abendzeitung oder die Hamburger Morgenpost sind das Methadon-Programm. Und Bild hinterlässt Spuren, manchmal sogar tödliche Spuren. Menschen haben sich nach Berichten in der Bild-Zeitung umgebracht. Sie haben Bild in ihren Abschiedsbriefen für ihren Tod verantwortlich gemacht. Im wortwörtlichen Sinne wurde Rufmord betrieben. Tiedje: Herr Wallraff, Sie sind fest verwurzelt in der ferneren Vergangenheit. Reden Sie darüber mal mit dem Bild-Kommentator Oskar Lafontaine. Ist das aus Ihrer Sicht, Herr Wallraff, heute immer noch so? Wallraff: Das weiß der alles, denn er hat im Gegensatz zu Ihnen meine Bücher gelesen und seinerzeit sogar einen Boykott-Aufruf mit unterschrieben. Und es gab Rückfälle. Den Schauspieler Raimund Harmstorf hat Bild auf dem Gewissen. Allerdings, dieses Ausmaß an Verhetzung findet heute so nicht mehr statt. Das liegt sicher mit daran, dass Gerichte härtere Urteile sprechen und die Öffentlichkeit das Ganze kritischer sieht. Aber es gibt inzwischen andere Blätter, die diese politische Hardliner-Rolle teilweise übernommen haben - manchmal im Verbund mit der Springer-Presse. Ich denke da vor allem an Focus. Den Spruch "Fakten, Fakten, Fakten - immer an den Leser denken" kann ich schon nicht mehr hören. Man sollte überlegen ihn umzuwidmen in "Fälschen, fälschen, fälschen und immer an den Rufmord denken". Herr Wallraff, Sie gehen an dieser Stelle mit der Bild-Zeitung geradezu milde um. Wofür steht denn "Post von Wagner"? Das müsste doch bei Ihnen als Kampagnen-Journalismus gelten? Wallraff: Nun, das ist Stimmungsmache der ganz miesen Art. Da rülpst und deliriert einer, als läge er unterm Stammtisch. Wer das liest und wer anfällig dafür ist, bei dem entsteht eine Schlussfolgerung an der Wahrheit vorbei. Das sind keine Kommentare, das ist Hetze, die bei bestimmten Menschen den Ruf nach der Todesstrafe freisetzen kann; ich denke hier speziell an einen wahrheitswidrigen Kommentar über die Hochzeit des inhaftierten Mörders Zurwehme. Tiedje: Was reden Sie da? Mein Freund Franz-Josef Wagner hat nie die Todesstrafe befürwortet. Der ist, wie auch ich, ein leidenschaftlicher Gegner der Todesstrafe. Mehr noch: F.-J. Wagner ist die journalistische Berufungsinstanz. Er formuliert, was Millionen fühlen. Und noch ein Wort zu Focus: Sie wollen offenbar von Helmut Markwort verklagt werden. Hat die Bedeutung der Bild-Zeitung nicht abgenommen? Das Blatt hat doch kräftig Konkurrenz bekommen. vor allem durch das kommerzielle Fernsehen. Tiedje: Nein, im Gegenteil: Die Bedeutung der Bild-Zeitung ist in den letzten Jahren gewachsen. Früher erreichten Fernsehsendungen ein Publikum von mehr als 20 Millionen Menschen. Ganz harmlose Sendungen wie die Schwarzwaldklinik, aber damit wird ja auch Politik gemacht. Die Quoten sind dramatisch gesunken. Die höchste Quote heute hat Gottschalk mit Wetten, dass...?, der hat 15, 16 Millionen Zuschauer. Doch diese Show findet höchstens alle acht Wochen statt. Aber die Bild-Zeitung erscheint jeden Tag mit einer Reichweite von zehn bis elf Millionen Lesern. Von den 45 bis 50 Millionen Menschen, die Bild lesen könnten, liest jeder vierte oder fünfte Erwachsene im Land Bild. Eine solche Reichweite, wie sie die Bild-Zeitung jeden Tag hat, hat kein Fernsehsender. Die Tagesschau sahen früher 20 Millionen Zuschauer, heute sind es fünf bis sechs Millionen. die ZDF-Nachrichtensendung heute hat vier Millionen, Im Klartext heißt das: Wenn ich in Deutschland irgend etwas bekannt machen will, wenn ich eine Nachricht habe, die an das ganze Land gerichtet ist, gibt es kein besseres Medium als Bild. Früher gab es vergleichbare Medien, von der Tagesschau bis ZDF-heute. Übrig geblieben ist Bild. Die Segmentierung des Fernsehens hat im Grunde der Bild-Zeitung eine größere Bedeutung verliehen. Wallraff: Die Macht des Springer-Konzerns ist größer geworden. Das zeigt sich auch daran, dass andere, konkurrierende Blätter sich Zurückhaltung auferlegen oder hinter den Kulissen auf allerhöchster Ebene Stillhalteabkommen vereinbart werden. Es ist schon fatal, wenn sich der Verleger der Zeit beim Springer-Vorstand entschuldigt für ein korrektes, ganz sachliches, unbestechliches Fakten-Dossier, das nichts anderes tut als die Kampagne der Springer-Presse gegen grüne Politiker zu dokumentieren. Nur Zitate, keine Kommentierung. Und was passierte? Es gab einen Entschuldigungsbrief von Herrn von Holtzbrinck an den Springer-Vorstandschef. Bisher ist nicht bekannt, dass er sich bei seinen Redakteuren dafür entschuldigt hat. Copyright © Frankfurter Rundschau 2001 | ||