Hans Ali Esser Der Mensch, ein Material: Dem Schriftsteller Günter Wallraff zum sechzigsten Geburtstag "Zehn Jahre habe ich diese Rolle vor mir hergeschoben. Wohl, weil ich geahnt habe, was mir bevorstehen würde. Ich hatte ganz einfach Angst.“ So beginnt, nein, nicht der Memoirenband eines Großschauspielers, sondern eines der meistverkauften Bücher der deutschen Gegenwartsliteratur: "Ganz unten.“ von Günter Wallraff. Die Rollen, die der Autor darin - auf einem Bauernhof und einer Baustelle, bei McDonald’s, Thyssen und vor allem als Leiharbeiter - annimmt, hat die Wirklichkeit bereitgestellt: Wallraff, der sich dafür in Ali Levent verwandelte, hat sie nicht gespielt, sondern - gelebt. "Ich muß“, so äußerte er sich 1977 zu seiner Methode und damit auch zum Unterschied zwischen seinen Reportagen und denen von Egon Erwin Kisch, „selbst erst zum Betroffenen, notfalls zum Opfer werden, um über die Situation der Opfer dieser Gesellschaft schreiben zu können.“ Als "Ganz unten.“ 1985 erschien, trieb es der bundesdeutschen Gesellschaft die Schamröte ins Gesicht. Denn hier enthüllte einer, was jeder hätte wissen und herausfinden können, aber niemand gewußt haben wollte: Wie mit Menschen, ausländischen Arbeitern, gehandelt wird, wie sie verliehen und verkauft, als Material eingesetzt und verschlissen werden - rechtlos, schutzlos, würdelos. Daß Wallraff dies als einziger und doch stellvertretend für ein Publikum leistete, das das soziale Gewissen, das er zeigte, für sich beanspruchte und gleichzeitig an ihn übertrug, diese kollektive Entlastung mag den immensen Erfolg des Buches mitbegründen, das auf deutsch eine Auflage von vier Millionen erreichte und in dreiunddreißig Sprachen übersetzt wurde. Wallraff, ein Rechercheur im öffentlichen Auftrag. Auf den langen Weg nach "Ganz unten“ hatte sich der gelernte Buchhändler, der 1942 in Burscheid geboren wurde und in Köln aufgewachsen ist, schon in seinen frühen "Industriereportagen“ (1966), die Erfahrungen "als Arbeiter in deutschen Großbetrieben“ sammeln, und vor allem in "13 unerwünschte Reportagen“ (1969) begeben, für die er sich als Penner und Alkoholiker, Ministerialrat oder Fabrikant maskierte, um andere zu demaskieren. Schon damals sah Heinrich Böll, der ihn förderte, die Grenzen dieser Arbeitsweise: "Ich habe nur einen Einwand gegen Wallraffs Methode: Er wird sie nicht mehr lange anwenden können, weil er zu bekannt wird.“ Obwohl in den betroffenen Chefetagen schon früh "Wallraff-Steckbriefe“ verfaßt wurden, um andere Firmen vor seinem "Einschleichen“ zu warnen, war sein Verwandlungsrepertoire aber noch lange nicht erschöpft: Für "Ihr da oben - wir da unten“ (1973) ließ sich Wallraff vom Gerling-Konzern als Bote einstellen, der im Vorstandscasino dinierte; 1974 kettete er sich in Athen auf dem Syntagmaplatz an, um für die Freilassung der Häftlinge der Militärregimes zu demonstrieren, woraufhin er zusammengeschlagen und für zehn Monate ins Gefängnis gesteckt wurde; und 1976 traf er sich, als Waffen- und Strauß-Unterhändler getarnt, mit dem ehemaligen portugiesischen Staatspräsidenten Spinola und enthüllte dessen Putschpläne. Seinen größten Coup aber landete Wallraff 1977, als er für vier Monate in der hannoverschen Lokalredaktion der "Bild“-Zeitung „mitgelogen“ und "mitgefälscht“ hat, um in "Der Mann, der bei ,Bild’ Hans Esser war“ die Methoden, Machenschaften und Manipulationen des Boulevardblatts aufzuzeigen und auch die Journalisten zu beschreiben, die daran - zwischen Anpassung und Zynismus - mitwirken. Wallraff ist danach übel kriminalisiert und übermäßig heroisiert worden, und das, obwohl - oder vielleicht auch gerade weil - es seine Texte auszeichnet, daß seine Person ganz hinter den Verhältnissen des Unrechts, die sie erkunden, zurücktritt. Die Prozesse, mit denen ihn der Springer-Verlag überzog, hat er alle gewonnen, nur wenige Sätze mußte er streichen oder präzisieren, und in letzter Instanz hat der Bundesgeriehtshof "Bild“ in seinem Urteil als "eine Fehlentwicklung im deutschen Journalismus“ bezeichnet. Heute, da die Zeitung vorsichtiger und gesellschaftsfähig geworden ist (einer ihrer ,ehemaligen Redakteure wurde gerade zum Regierungssprecher berufen), hält Wallraff den Hilfsfonds, den er damals für "Bild“-Opfer einrichtete, weiter vor. Als Schriftsteller aber ist er, der sich lange "nur“ als Bestandteil eines Kollektivs verstand, das es zu beschreiben gilt, ein Einzelgänger geblieben. Sein soeben erschienener Band "Ich - der andere“ offenbart eine Seite von ihm, die bislang wenig wahr genommen und in dem Foto, das ihn auf Gerlings Schreibtisch zeigt, doch aktenkundig wurde: als Schelm, Clown und Eulenspiegel. Erst in jüngster Zeit hat Wallraff bei einem Vertreter der übernächsten Generation einen Nachahmer gefunden: Der Popliterat und Journalist Benjamin von Stuckrad-Barre hat, Ironie des Literaturbetriebs, seine Methode aufgegriffen und zu kopieren versucht. In den letzten Jahren ist es ruhiger um Günter Wallraff geworden. Die Undercover-Tätigkeit, die seinen Publikationen vorausging, hat ihm auch gesundheitlich zugesetzt. Doch ist mit dem Autor, der heute sechzig Jahre alt wird, weiter zu rechnen: "Ich versuche gerade, noch einmal in eine neue Rolle abzutauchen“, sagte er, ohne Näheres verraten zu wollen, vor vier Wochen in einem Interview. Heute, da er längst wie nur wenige andere deutsche Autoren Zeitgeschichte geschrieben hat, läßt sich der Titel, den seine Industriereportagen zunächst trugen, auch auf ihn selbst beziehen: "Wir brauchen dich.“ ANDREAS ROSSMANN | ||