aus: Dietmar Schultke:» Keiner kommt durch« Die Geschichte der innerdeutschen Grenze 1945-1990, Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 1999
Nachbemerkung »Beschreiben, was ist, was war.« Diesen Leitsatz von Jürgen Fuchs im Sinne von Anschreiben gegen das Vergessen, Verdrängen, Verharmlosen und Schönreden hat Dietmar Schultke sich zu eigen gemacht. Die eigene Leidenszeit bei den Grenztruppen der DDR hat ihn zuerst verstört und zutiefst aufgewühlt und dann zum akribischen und systematischen Chronisten der innerdeutschen Grenze werden lassen. Seine Recherchen, Archivfunde und dokumentarischen Aufzeichnungen veranschaulichen eindringlich unwiderlegbare Fakten aus der Zeit des Kalten Krieges. Der Schießbefehl und eine flächendeckende Uberwachung und Bespitzelung seiner Bürger bezeugen, wie wenig souverän und totalitär dieser »andere Teil Deutschlands« von Grund auf war. Der Autor belegt, daß kein Mauerschütze mit ernsthaften Repressalien hätte rechnen müssen, wenn er sein Ziel verfehlt, in die Luft geschossen oder Ladehemmung vorgetäuscht hätte. Mit der sattsam bekannten Ausrede vom angeblichen »Befehlsnotstand« werden fast immer niedere Beweggründe wie Untertanenverhalten und Kadavergehorsam, Erpichtsein auf Auszeichnung und Beförderung bis hin zu Sonderurlaub und Fangprämie kaschiert. Nicht verwunderlich und auf eine perfide Art konsequent sind dann auch die durchweg verhältnismäßig milden Strafen (oft zur Bewährung ausgesetzt) gegen die ausführenden Instanzen, die Todesschützen an der Mauer und ihre verantwortlichen Befehlsgeber. Wenn man bedenkt, daß - von einer Ausnahme abgesehen - kein Richter oder Staatsanwalt des Dritten Reiches, der an Todesurteilen wegen »Rassenschande«, an Deporationen oder Hinrichtungen gegen Deserteure oder Kriegsgefangene beteiligt war, sich in der Bundesrepublik jemals vor Gericht verantworten musste! Und der entlarvende Satz des »furchtbaren Juristen«, des ehemaligen Marinerichters und späteren Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg Filbinger*: »Was damals rechtens war, kann heute nicht Unrecht sein«, wird auch heute wieder bei den Prozessen gegen DDR-Unrecht von den Verantwortlichen und ihren Anwälten zur Rechtfertigung ihrer Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeschoben. In einzelnen Passagen verdichtet sich Schultkes Beschreibung zu einer fast allegorischen Eindringlichkeit: so wenn er den ca. 1400 Kilometer langen Todesstreifen als »sauber geharkten Garten« beschreibt, mit »Tausenden uniformierten Gärtnern mit Harke und Kalaschnikow«. Der ewige deutsche Mitläufer, der übereifrig angepaßte, überall funktionierende Befehlsempfänger ist nicht mit dem Ende der DDR - dem in vielem preußischeren und deutscheren der beiden deutschen Staaten - ausgestorben, so wie er auch nicht mit dem Zustandekommen dieses Staates mit sozialistischem Anspruch aus der Taufe gehoben wurde. Die Wurzeln und Ursachen reichen weiter zurück. Da, wo »Disziplin, Ordnung, Fleiß und Pünktlichkeit«, sogenannte Sekundärtugenden, sich verselbständigen und in den Rang von Primärtugenden erhoben werden, geht die Saat der Unmenschlichkeit auf. Wenn kommende Generationen Europas neue Grenzen gegen Armutsflüchtlinge, gegen sogenannte »Überfremdung« abzuschotten haben, sind auch für sie Dietmar Schultkes Texte Mahnung und Lehrstücke. Köln, im Juli 1999, Günter Wallraff *Filbinger hatte noch in den letzten Kriegstagen in Norwegen junge deutsche Soldaten, die sich in die Heimat absetzen wollten, zum Tode durch Erschießen verurteilt und es sich nicht nehmen lassen, persönlich das Kommando »Feuer frei« zu geben. | ||||