Nicht veröffentlichtes Interview mit der Leipziger Volkszeitung (Springer Verlag) vom 20.09.2001: Leipzig. Günter Wallraff, Jahrgang ’42, dessen “Ganz unten“ über drei Millionen Mal verkauft und in 35 Sprachen übersetzt wurde, sieht in den Attentaten von New York und Washington eine neue Qualität des Terrorismus. Der Journalist und Schriftsteller, der aus seinen Honoraren die Stiftung “Zusammenleben“ finanziert, glaubt an eine Unterstützung von staatlicher Seite aus dem Nahen Osten. Unsere Zeitung sprach mit dem Islam-Kenner über die Anschläge in Amerika, einen möglichen Kultur-Kampf und Auswirkungen auf Deutschland. Frage: Was steckt hinter den Anschlägen: Der Kampf der Kulturen, wie ihn Huntington prophezeit? Günter Wallraff: Ich sehe das verhängnissvolle in einem sich zuspitzenden Dualismus in der Aufspaltunmg der Welt in Gut und Böse. Im Sinne des Dschihad, des Heiligen Krieges, werden die Amerikaner als das Urböse dargestellt. Umgekehrt ist wiederum zu beobachten - und das ist ein Grund, warum unsere Politiker mehr auf Distanz gehen und eigene differenziertere Forderungen stellten sollten -, dass US-Präsident Bush, vom “Kreuzzug gegen das Böse“ spricht. Das wird bei den islamischen Staaten unheilvolle Erinnerungen heraufbeschwören: den Kreuzzug im 11. und 12. Jahrhundert mit der versuchten Zerstörung ihrer Kultur. Das würde letztlich auf Huntingtons “Zusammenprall der Kulturen“ hinauslaufen. Für Amerika, für die NATO insgesamt, steckt der Terrorist Osama bin Laden hinter den Anschlägen. Es geht doch längst nicht allein um diesen Menschheitsverbrecher, sondern um ein weit verzweigtes Netzwerk von Terrororganisationen, die von bestimmten Staaten unterstützt oder geduldet werden. Die Gefahr besteht darin, dass bin Laden durch die ausschließliche Fokussierung auf ihn am Ende zu einer Art Che Guevara der Islamisten hochstilisiert wird. Diesen Terrorismus kann man nicht militärisch bekämpfen, sondern muss die Ursachen angehen nämlich, Entwicklungsländer fördern, Verelendung und Hunger bekämpfen. Wenn wir in den satten Ländern nicht umdenken, könnte Huntington wirklich Recht behalten. Bin Laden ist also nicht der Drahtzieher? Hinter den Anschlägen steckt ein Plan, mit eiskaltem Kalkül und einer Langzeitstrategie. Und man muss davor warnen, dass unsere Politiker in diese Falle tappen, damit nicht eine Neuaufteilung der Welt im Sinne dieser Terroristen geschieht ... ... die Sie im arabischen Raum sehen. Ja. Ich sehe die Aktion aber nicht auf einen Einzelnen konzentriert. Es ist die Handschrift von Geheimdienst-Experten. Aus welchem Land oder Ländern dies genau beaufragt wurde, wird sich vielleicht nie exakt beweisen lassen. Die Vergeltung soll Afghanistan treffen. Die Tatsache, dass sich die USA mit dem Vergeltungsschlag so viel Zeit nehmen, würde ich nicht unbedingt als Zeichen von Besonnenheit werten. Es scheint mir vielmehr auch Ausdruck für eine große Ratlosigkeit. Und ich befürchte, dass es die Ruhe vor dem Sturm ist. Bush spricht bereits von Krieg. Und das erschreckt mich. Es passiert eine Gleichschaltung, es herrscht ein absoluter Konsens: Egal, was uns abverlangt wird - wir sind alle Amerikaner. Wenn schon, dann lieber New Yorker - denn das World Trade Center war doch gleichzeitig ein Symbol von Multikulturalität. Dort sind Menschen aus 69 Nationen, auch Muslime darunter, ausgelöscht worden. Wird es in der arabischen Welt nach einem amerikanischen Angriff ein “Wir sind alle Afghaner“ geben? Wenn ein islamisches Land von einer westlichen militärischen Übermacht angegriffen wird, wird es in der islamischen Welt automatisch einen Solidarisierungseffekt geben. Man muss berücksichtigen: Die Amerikaner haben viele dieser total korrupten Regime aus vordergründigsten wirtschaftlichen und strategischen Interessen gestützt oder erst ermöglicht, haben sich selbst als Zentrum und Herren der Welt betrachtet und andere Länder und Kulturen nur als Marginalien. Welche Auswirkungen sehen Sie für das Zusammenleben in Deutschland? Ich befürchte, dass die hier lebenden Menschen anderer Kulturen noch mehr ausgegrenzt werden und dass man mit einem verschärften Asylrecht dem Problem nicht beikommt. Denn die Terroristen sind ja nicht die Finsterlinge, als die sie dargestellt werden, sondern wirken in ihrer Umgebung eher wie moderate Zeitgenossen, wie wir jetzt erfahren haben. Die Abschaffung des Religionsprivilegs halte ich jedoch für berechtigt. Dessen Aufhebung ist nur ein Punkt des Anti-Terror-Pakets. Dazu gehören auch drei Milliarden Mark für innere Sicherheit. Es ist geradezu lachhaft, wie jetzt versucht wird, mit bürokratisch-formalistischen Schnell-Rezepten lediglich eine Scheinsicherheit zu suggerieren. Dabei werden Menschen unter Generalverdacht gestellt, die längst zur Gemeinschaft gehören. Darin sehe ich das Dilemma: Diejenigen, die willkommen geheißen werden, integrieren sich doch viel eher und suchen nicht Zuflucht in fundamentalistischen gewaltbereiten Religionsgemeinschaften. | ||