LITERATUR BIOGRAFIE IN BÜCHERN

Günter Wallraff, Reporter

Veröffentlicht am 18.03.2017 | aus WELT N24

Er war Hans Esser bei „Bild“, er war der Türke Ali in „Ganz unten“, und er ist von Beruf: Enthüllungsjournalist. Ähnlich unerschrocken wie Günter Wallraff zeit seines Lebens als Reporter arbeitete, hortet er auch seine Bücher: „Sie bewohnen mein Haus, in Schichten auf dem Küchentisch, in Stapeln auf den Holztreppen, auf Kommoden im Wohnzimmer und in den Regalen an allen Wänden, die Platz bieten. Sie sind nicht alphabetisch geordnet, sie haben sich nach geografischen, gedanklichen und historischen Mustern gefunden, die nur sie selber kennen und ich.“.

1. Georg Demmler: „Onkel Knolle“

Das erste Buch, das einen nachhaltigen Eindruck bei mir hinterlassen hat, ist eine Benimmfibel für Jungen und Mädchen, „Onkel Knolle“. Ich mag damals sechs oder sieben Jahre alt gewesen sein und hatte es aus einer Bücherkiste meiner Großeltern geklaubt. In Reimform und mit bunten Bildern illustriert erzählt es in einer Episode die Geschichte von Friederike Lästermaul, die nicht gehorchen will und die Folgen dafür zu spüren bekommt. „Ungezogene“ einer anderen Sorte entführen sie: „Zwei Zigeuner, schwarz und greulich/ Packten jetzt die Frieda eilig/ Warfen sie, trotz ihrem Schrei’n/ In den Wagen, schwupps, hinein!“

Auf mich hatten die Drohungen allerdings nicht die beabsichtigte Wirkung, ich fand die widerspenstige Frieda toll, zumal sie dank der „Zigeuner“ auch noch im Zirkus auftreten durfte. Ihre Auflehnung imponierte mir, und ich wäre am liebsten wie sie von Zigeunern entführt worden.

Vielleicht erweckte Frieda in mir erste Anflüge von Nonkonformismus und Fernweh, zumindest Neugier auf die Welt der Verachteten und Ausgegrenzten. Heraus aus der Enge – das faszinierte mich schon als Kind. Und tut es noch heute.

2. „Till Eulenspiegel“

Till Eulenspiegel war einer meiner frühen Helden. In einem Schulaufsatz über meinen Idealberuf gab ich 1958 „Clown“ an. Ich meinte nicht den Zirkusclown, sondern einen Narren im existenziellen Sinn, der das „freiwillig auf sich genommene Nicht-ernst-genommen-Werden im großen Spiel des Lebens“ zelebriert. „Lachen, wo es einem zum Weinen zumute ist; die Weinenden zum Lachen bringen.“ So beschrieb ich es in meinem Aufsatz. Er wurde nicht bewertet: „Thema verfehlt“. Zwei Jahre später erschien übrigens Heinrich Bölls Roman „Ansichten eines Clowns“.

Als 15-jähriger Gymnasiast wurde ich mit einer Urkunde als „Ober-Till-Eulenspiegel“ ausgezeichnet. Wir waren in Mölln, einer von Eulenspiegels vermuteten Geburtsstädten, in einem Zeltlager, und ich hatte einem als Eulenspiegel verkleideten Stadthistoriker wohl die treffendsten Antworten auf seine Fragen gegeben.

So viel Ehrung wollte Praxis, und ich habe wenig später einen arroganten Streber der Parallelklasse vorgeführt. Ich packte ihn bei seiner Eitelkeit und behauptete, der Zeichenlehrer wolle ihn in der Pose eines griechischen Epheben unten auf dem Schulhof sehen. „Du darfst dich nicht bewegen, wir müssen dich nämlich vom letzten Stockwerk aus zeichnen.“ Und tatsächlich stand er da, auf einem Bein, den Arm nach oben gestreckt. Und war stolz.

3. Jakob van Hoddis: „Dichtungen und Briefe“

Ich glaube, ich war 17, 18, als ich expressionistische Lyriker wie Georg Trakl, Albert Ehrenstein und Georg Heym entdeckte und später selbst eigene Gedichte in einer experimentellen Lyrikzeitschrift veröffentlichte. Einer erschien mir in meinem damaligen Lebensgefühl und Weltverständnis wie eine Offenbarung: Jakob van Hoddis. Mit seinem Gedicht „Weltende“ erspürte er die bevorstehende Weltkriegskatastrophe bereits 1911: „Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut/ In allen Lüften hallt es wie Geschrei/ Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei/ Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut/ Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen/An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken./ Die meisten Menschen haben einen Schnupfen./ Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.“ Als Leitmotiv eines drohenden Umwelt-Armageddons erscheint das auch jetzt wieder sehr aktuell: Es ist eines der Gedichte, das sich bei mir eingebrannt hat. Jakob van Hoddis wurde 1942 während der Deportation oder im Vernichtungslager Sobibór ermordet.

4. Wolfgang Borchert: „Draußen vor der Tür “

Ohne die Bundeswehr wäre mein Leben wohl ganz anders verlaufen. Alle Männer ab 18 wurden damals eingezogen. Ich stellte einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung, aber verspätet, und musste – unter Protest – in die Kaserne einrücken. Von Anfang an weigerte ich mich – geschlagene zehn Monate –, eine Waffe in die Hand zu nehmen. Das hatte auch mit Wolfgang Borchert zu tun. Sein Aufschrei gegen den Krieg, ob in seinem Manifest „Dann gibt es nur eins! Sag nein!“ oder in „Draußen vor der Tür“, waren für mich Inspiration und Verpflichtung. Ich konnte ganze Passagen des Dramas auswendig und schrieb Schulaufsätze in seinem Stil. Borcherts Pazifismus und seine Radikalität, mit der er die Normen der Kriegsgeneration bloßstellte, waren mein geistiges Gepäck, als ich dem Druck der Ausbilder ausgesetzt war, die damals noch NS-Eroberungslieder grölen ließen und SS- und anderen Nazi-Symbolen huldigten. Ohne Borchert hätte ich diesen Härtetest nicht überstanden. So aber lernte ich eine wichtige Lektion: Man kann erfolgreich Widerstand leisten.

Es war durchaus ungewöhnlich, dass man in der Schule Borchert las. Zu verdanken hatte ich das meinem damaligen Deutschlehrer, der auch Toller, Tucholsky, den frühen Benn („Krebsbaracke“) oder Travens „Totenschiff“ durchnahm. Wenige Jahre vor seinem Tod offenbarte er mir sein Lebenstrauma: Er war im Krieg einem Erschießungskommando zugeteilt, das einen Deserteur erschoss.

5. Jaroslav Hasek: „Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk“

Eine Art früher Schutzpatron war mir auch Schwejk, der mit seinen listigen Dummstell- und Schelmenstreichen die Gescheiten und Entscheidungsgewaltigen zum Narren hielt. Einige meiner subversiven Aktionen bei der Bundeswehr waren definitiv durch Schwejk und Eulenspiegel inspiriert. Ich erinnere mich noch, wie das „Durchsagen von Parolen“ im Schützengraben per stiller Post trainiert werden sollte. Am Abend vorher wurde in der „Kompaniebelehrung“ die Wirkung der Atombombe total verharmlost. Vom Nebenmann wurde einem zugeflüstert: „Feindliche Panzer auf eigene Stellung zubewegend! Fertigmachen zum Sturmangriff!“ Ich gab weiter: „Abwurf der A-Bombe, 100 Meter östlich. Atomblitz von links! Kopf in den Sand! Zeitung drauf!“ Diese Order wurde ganz selbstverständlich bis zum Letzten weitergeflüstert, der sie aufschreiben musste und dem Hauptmann übergab. Der wurde ganz blass und wusste sofort, wer der Urheber dieser Fake-Meldung war.

Hin und wieder erlaubte ich es mir auch, den Kameraden eine Freude zu bereiten, indem ich ihnen nachts Feldblumen in ihre Gewehrläufe steckte. Zwei Jahrzehnte später übrigens war die Nelke im Gewehrlauf das Symbol der friedlichen Revolution in Portugal.

Wegen derartiger Aktionen machte man kurzen Prozess und sperrte mich in die geschlossene psychiatrische Abteilung des Bundeswehrlazaretts in Koblenz ein. Weil sie mich auch dort nicht „gedreht“ bekamen, wurde ich schließlich mit dem Ehrentitel „Abnorme Persönlichkeit, für Krieg und Frieden untauglich“ wieder in die Freiheit entlassen. Meine Tagebuchaufzeichnungen über meine Bundeswehrerlebnisse erschienen unmittelbar nach meiner Entlassung in der Jugendzeitschrift „Twen“ und später als Buch mit einem Vorwort von Heinrich Böll.

6. Knut Hamsun: „Hunger“

Nach meiner Bundeswehrzeit war mir klar: In meinen erlernten Buchhändlerberuf wollte ich nicht mehr zurück. So trampte ich durch ganz Skandinavien. Inspiriert zu meiner romantisierenden Reise wurde ich von Jack London, Jack Kerouacs „On the Road“ und vor allem von Knut Hamsuns „Hunger“ und „Mysterien“. Mitten im kältesten Winter fristete Hamsun sein Dasein in Obdachlosenasylen und isolierte sich von der kleingeistigen und spießbürgerlichen Welt seiner Zeit. Seine existenziellen Erfahrungen verdichteten sich zu einer Einheit von Leben und Werk, die mich tief beeindruckte. Ich lebte damals mit Obdachlosen auch auf der Straße, das schärfte meinen Blick für die Verhältnisse „ganz unten“ und hat mein Denken und Fühlen wohl nachhaltig geprägt. Asyle und Fabriken wurden meine Universitäten. Es war kein Zufall, dass ich am Fließband bei Ford anfing. Dort hatte mein Vater in der „Lackhölle“ seine Gesundheit ruiniert und ist an den Folgen früh gestorben. Inspiriert zu meinen „Industriereportagen“ wurde ich auch durch eine Veröffentlichung von Horst Symanowski und Fritz Vilmar: „Die Welt des Arbeiters – Junge Pfarrer berichten aus der Fabrik“.

7. Arthur Rimbaud: „Ich ist ein anderer“

Mich hatte auch Rimbauds Bekenntnis „Ich ist ein anderer“ begeistert, mit dem er seine Sehnsucht nach Entgrenzung und Entäußerung kundtat. „Der Dichter macht sich zum Seher durch eine lange, ungeheure und wohlüberlegte Entregelung aller Sinne. Alle Formen der Liebe, der Leiden, des Wahnsinns; er sucht selber“, schrieb Rimbaud. Dass Leiden, Überwindung von Angst und ein Hauch Wahnsinn dazugehören, um eine andere Realität als die eigene leibhaftig zu erfahren und darüber zu berichten, glaube ich bis heute. Sonst wäre mir wohl auch mein Undercover-Einsatz bei der „Bild“-Zeitung nicht gelungen.

8. Heinrich Böll: „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“

Bestärkt durch Bölls Erzählung setzte ich mich einem Experiment aus, das mich als „Bild“-Reporter oft genug beschmutzte. Ich wollte die Nagelprobe auf die begründete Vermutung von Böll machen, dass in dieser Zeitung gelogen und gebogen wurde, was immer Auflagensteigerung versprach. Ich bin genügend „Bild“-Fälschungen und ihrer willentlichen Systematik im „Aufmacher“ und zwei weiteren Büchern auf die Spur gekommen, um nachfolgende Kampagnen gegen dieses Blatt guten Gewissens unterstützen zu können.

9. Upton Sinclair: „Der Sumpf“

„Der Sumpf“ von Sinclair deckte die unmenschlichen Arbeitsbedingungen baltischer Einwanderer und die ekelerregenden hygienischen Verhältnisse in der amerikanischen Fleischindustrie Anfang des 20. Jahrhunderts auf. Mich beeindruckte die Radikalität von Sinclair ebenso wie Émile Zolas „Germinal“ und mir war klar, dass sie auch noch über ein halbes Jahrhundert später aktuell war. Auf Sinclairs Enthüllungen reagierte damals Präsident Roosevelt, allerdings nur durch neue Hygienegesetze. Sinclair sagte später: „Ich wollte Amerika ins Herz treffen, traf es aber nur in den Magen.“ Ich machte Mitte der 80er-Jahre mit meinem Buch „Ganz unten“, für das ich als türkischer Arbeiter Ali zwei Jahre unterwegs war und u.a. auch bei McDonald’s als Burgerbrater anheuerte, ähnliche Erfahrungen. Meine Enthüllungen über McDonald’s halfen erst einmal auch nur, die Hygiene zu verbessern, die Arbeitsbedingungen blieben noch bis in die 90er-Jahre die alten.

10. Salman Rushdie: „Satanische Verse“

Salman Rushdie besuchte mich nach der gegen ihn verhängten Fatwa zweimal und wohnte unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen bei mir. Rushdie habe ich es zu verdanken, dass ich mich intensiv mit dem Koran beschäftigt habe – anders kann der Nichtmuslim die gelungenen satirischen Anspielungen in den „Satanischen Versen“ gar nicht richtig verstehen. Ich bin überzeugt, dass die meisten von denen, die Rushdies Kopf fordern, sein Buch gar nicht kennen. Zumal das Buch in keinem islamischen Land erscheinen durfte. Islamisten, die sich im Besitz der reinen Wahrheit wähnen, verstehen keinen Spaß, sie meinen es wortwörtlich todernst mit ihrer Absolutheitslehre. Rushdies „Satanische Verse“ und die daraus resultierende Koranlektüre haben mich in meiner Kritik an den Menschenrechtsverletzungen in islamischen Ländern und an den Verbrechen im Namen des Islam bestärkt.